Sinnlose Debatten

Manchmal ermüde ich mit einem Mal. Da springe ich aus dem Bett, nehme eine erquickende Wechseldusche, trinke einen Schluck Zitronensaft pur, dann tiefschwarzen Kaffee und scheine energieladen für den jungen Tag. Bis ich – ein wenig ängstlich schon – die Feuilletonseiten deutscher Tages- und Wochenzeitungen aufschlage und jählings damit konfrontiert werde, dass schon wieder über irgendetwas debattiert, dass schon wieder eine Sau durchs Dorf getrieben wird. Sofort erschlaffen meine Glieder, falle ich in mich zusammen, und mein Haupt senkt sich über jene Blätter, die für meinen Kummer sorgen.

Um nicht missverstanden zu werden: Ich streite und debattiere gern. Nicht unbedingt über Theo Sarrazin, aber über die Rentenpolitik der Großen Koalition zum Beispiel, über die Aussichten von Joachim Löws Mannschaft, Fußballweltmeister zu werden, oder auch darüber, warum deutschsprachige Autoren, ihre Geschichten so gern im Präsens erzählen und es keinem gelingt, so grandiose Romane wie Donna Tartts „Distelfink“ zu schreiben. Nichts aber macht mich schlaffer, als Diskussionen zuzuhören, die nicht einmal das Feuilleton braucht, Diskussionen, in denen Schriftstellern gesagt wird, dass sie das Meiste falsch machen.

Rekapitulieren wir die letzten Monate: Welchen Sinn hat es, Martin Mosebach vorzuwerfen, dass in seinem Anfang der 1990er-Jahre spielenden „Blutbuchenfest Figuren mit Handys hantieren und Mails abfragen, obwohl das technisch damals gar nicht möglich war? Ganz so, als sei die Weltliteratur nicht mit Anachronismen gespickt. Zum Glück hielt diese scheinbare Realismusdebatte nicht lange an und vor.

Dann kam aus dem Nichts ein Mann namens Florian Kessler und warf der Gegenwartsliteratur vor, zu brav zu sein, weil deren Vertreter aus einem bürgerlichen Langweilermilieu kämen und ihre Prosa deshalb auch so aussehe. Als sei Herkunft ein Belang für Textqualität.

Wenig später preschte Maxim Biller, das alte, seine Intelligenz oft geschickt verbergende Streitross, vor und warb für seinen demnächst erscheinenden neuen Roman damit, dass er seinen Kollegen – vor allem denen mit Migrationshintergrund – vorhielt, sich nicht an die Biller’schen Schreibvorgaben zu halten. Wie der aus Bosnien stammende Saša Stanišić, der sich erdreistet, sein neues Buch in der Uckermark anzusiedeln. Schriftsteller schreiben über Themen, die sie sich erarbeiten mussten – ein unglaublicher Vorgang, seit Homer noch nie vorgekommen. Und wie immer bei Biller hatte das mit den Nazis zu tun und der Unterdrückung von Maxim Biller … oder mit beidem. Vielleicht aber auch nur damit, dass Biller, wie seine Kollegin Christiane Neudecker anmerkte, das Meiste, über das er urteile, nicht kennt.

Ach ja, und dann Sibylle Lewitscharoffs Dresdner Rede, die wenigstens nichts mit dem Zustand der Gegenwartsliteratur zu tun hatte. Was von Lewitscharoffs Meinungen und ihrer Wortwahl zu halten sein mag, ist eine Sache – eine andere die, dass selbst das sofort von Teufelsaustreiber Georg Diez (ja, der mit den haltlosen Vorwürfen an Christian Kracht – erinnert sich jemand?) für seine trüben Zwecke vereinnahmt und als „Zäsur“ gleich für den gesamten Literaturbetrieb gedeutet wurde.

Sie verstehen jetzt, warum ich manchmal so müde bin? Und viel lieber über das Wetter reden möchte? Nein, nicht über die Klimakatastrophe, sondern nur übers Wetter, ganz unverfänglich …

Rainer Moritz

Rainer Moritz, born 1958, German literary critic and writer. He is director of Literaturhaus Hamburg.

Rainer Moritz, geboren 1958, deutscher Literaturkritiker und Autor. Er ist Leiter des Literaturhauses Hamburg.

Rainer Moritz, born 1958, German literary critic and writer. He is director of Literaturhaus Hamburg.

Rainer Moritz, geboren 1958, deutscher Literaturkritiker und Autor. Er ist Leiter des Literaturhauses Hamburg.

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