The Migrants/ (Die) Migranten

When I first wrote this lecture a summary of my argument could have been – when art fails, there is cruelty, because cruelty in humans is caused by a lack of imagination. There are not enough human beings who are ill in the appropriate kinds of ways to individually create epidemic levels of cruelty. They can do harm. Of course. But to do great harm, cruel societies, cultures of cruelty have to be created – either by accident or design, usually both – so that they can recruit otherwise normal human beings to be cruel, even though they might not be under other circumstances.

That is to say – when art fails, failure of imagination follows and thereafter cruelty thrives.

Arts practitioners might reply that they are oppressed by the cruel who very reasonably seek to avoid the possible beneficial effects of art escaping into the wider community. This is true.

But it is also true that failure of the arts, of artists, helps the cruel amongst us triumph and begin to oppress us all, even in relatively free societies – including – and perhaps initially, those who are communicators.

My talk today will still deal with this area.

But between my first draft and my last a photograh of a small, dead boy made it to headlines of many newspapers which had, only hours before, been pouring out hatred at refugees as a moral, cultural, biological, and spiritual threat. As David Cameron put it – “a swarm of people”
When people are in a swarm, they aren’t people. They are both of an alien species and a danger.

When words put them in a swarm, they don’t receive the real world’s help.

Here was a picture of a boy, who looked like many other little European boy. Boys like beaches and sand and the sea – only this little boy in Western-style dress was dead and face down. He was at once familiar – a boy’s body at rest – and horribly changed – a lifeless body, face down, caught in a moment of helpless return to the material. We could easily imagine him as human and alive and not swarming. He developed a name – Aylan Kurdi and stopped being part of a swarm ..

Read more: Opening Lecture of the European Literature Days 2015, Schloss Spitz, 23.10.2015

***

Als ich die erste Fassung dieses Vortrags schrieb, hätte man meine Argumentation so zusammenfassen können: Wo die Kunst versagt, gibt es Unmenschlichkeit, denn menschliche Grausamkeit erwächst aus Mangel an Vorstellungskraft. Es gibt nicht genug derart kranke Menschen, dass sie als Einzelne Grausamkeit in epidemischem Ausmaß verbreiten könnten. Sie können Schaden anrichten, natürlich. Aber um großen Schaden anzurichten, müssen grausame Gesellschaften, Kulturen der Unmenschlichkeit geschaffen werden – entweder zufällig oder vorsätzlich, meist beides – die dann eigentlich ganz normale Menschen dazu bringen können, grausam zu sein, obwohl sie das unter anderen Umständen nicht wären.

Kurz gesagt: Wenn die Kunst versagt, folgt das Versagen der Vorstellungskraft, worauf Unmenschlichkeit gedeihen kann.

Wer nun Kunst ausübt, könnte dem entgegen halten, er oder sie werde von den Unmenschlichen unterdrückt, die nach ihrer Logik ganz folgerichtig verhindern wollen, dass die positive Wirkung der Kunst sich in der Gesellschaft ausbreiten kann. Das stimmt.

Doch ebenso richtig ist, dass erst ein Versagen der Kunst und der Künstler den Unmenschlichen unter uns zum Triumph verhilft, worauf sie dann uns alle unterdrücken können, selbst in relativ freien Gesellschaften, und eben auch – vielleicht sogar zuallererst – die Kommunikatoren.
Mein heutiger Vortrag wird sich immer noch mit diesem Thema beschäftigen.

Doch zwischen meinem ersten Entwurf und dem letzten hat es ein toter kleiner Junge in die Schlagzeilen vieler Zeitungen geschafft, die noch wenige Stunden zuvor alle Flüchtlinge hasserfüllt als moralische, kulturelle, biologische und spirituelle Bedrohung dargestellt hatten. Oder, wie David Cameron es ausdrückte: »Ein Menschenschwarm.«

Wenn Menschen im Schwarm auftreten, sind sie keine Menschen mehr. Sie sind zugleich fremdartig und gefährlich.

Werden sie mit Wörtern zu einem Schwarm gemacht, wird ihnen real nicht geholfen.

Hier war nun das Bild eines Jungen, der wie viele andere europäische Jungen aussah. Jungen mögen Strände und Sand und Meer – nur lag dieser westlich gekleidete kleine Junge tot auf dem Gesicht. Er wirkte zugleich vertraut – ein ruhender Jungenkörper – und furchtbar verändert: ein lebloser Körper mit dem Gesicht nach unten, aufgenommen zu einem Zeitpunkt, da er hilflos wieder zu reiner Materie geworden war. Wir konnten ihn uns leicht als menschlich und lebendig vorstellen, nicht als Schwarmtier. Er bekam einen Namen – Aylan Kurdi – und hörte auf, Teil eines Schwarms zu sein …

Weiterlesen: Eröffnungsvortrag der Europäischen Literaturtage 2015, Schloss Spitz, 23.10.2015

Übersetzung aus dem Englischen: Ingo Herzke

A.L. Kennedy

A. L. Kennedy, geboren 1965, wurde bereits mit ihrem ersten Roman Einladung zum Tanz (2001) berühmt und zählt zu den wichtigsten zeitgenössischen englischen Autorinnen. Sie wurde mit zahlreichen wichtigen Literaturpreisen ausgezeichnet. 2007 erhielt sie den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur, 2016 den Heine-Preis. Kennedy lebt in London und unterrichtet kreatives Schreiben an der University of Warwick. Zuletzt auf Deutsch erschienen:  Süßer Ernst, 2018
"'Süßer Ernst' ist Bestandsaufnahme und Analyse. Es ist ein Buch über die Zerrüttung der englischen Verhältnisse, politisch wie privat. […] ein literarisch-politischer Coup.“ 
Hans-Peter Kunisch, DIE ZEIT

A. L. Kennedy, geboren 1965, wurde bereits mit ihrem ersten Roman Einladung zum Tanz (2001) berühmt und zählt zu den wichtigsten zeitgenössischen englischen Autorinnen. Sie wurde mit zahlreichen wichtigen Literaturpreisen ausgezeichnet. 2007 erhielt sie den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur, 2016 den Heine-Preis. Kennedy lebt in London und unterrichtet kreatives Schreiben an der University of Warwick. Zuletzt auf Deutsch erschienen: Süßer Ernst, 2018
"'Süßer Ernst' ist Bestandsaufnahme und Analyse. Es ist ein Buch über die Zerrüttung der englischen Verhältnisse, politisch wie privat. […] ein literarisch-politischer Coup.“
Hans-Peter Kunisch, DIE ZEIT

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