Weiterlesen

Chris Meade ist Direktor des Instituts The Future of the Book in London. Für das „Zukunftsatelier Buch_Text” der Solothurner Literaturtage 2014 schrieb er folgenden Beitrag, der hier in Kooperation und mit freundlicher Genehmigung der Solothurner Literaturtage erscheint. Siehe dazu auch den Beitrag von Veronika Trubel: Chris Meade über das Weiterlesen.

 

Wie sehen literarische Texte in 20 Jahren aus und wie viel haben die Druckereien damit noch zu tun ?

Ich schreibe dies, während mein Sohn und seine Partnerin sich für die Geburt von eineiigen Zwillingen vorbereiten. Was werden die beiden in zwanzig Jahren wohl lesen und schreiben?

Ich glaube, dass bis 2034 Leserinnen und Leser die eigenartigen Diskussionen darüber, was echte Bücher ausmacht, vergessen haben werden.

Wen kümmern die Debatten über Scrolls versus Codex, über Vinyl versus CD, VHS versus Betamax auf Dauer? Was sich im Nachhinein als wichtig erweist, ist immer die Qualität der Worte, der Musik und Bilder, was sie zu sagen versuchten, wer sie erschuf und betrachtete, wie sie finanziert und aufgenommen wurden.

Die Zwillinge werden heranwachsen und Geschichten erwarten auf Tablets, Mobiltelefonen und auch in Buchform auf Papier; Geschichten zum Anfassen mit animierten Bildern, die erst durch einen sie streifenden Blick ausgelöst werden; transmediale Abenteuer, die Fantasiewelten mit der realen Welt vereinen; Geschichten, mit denen man sprechen kann und die sich jedes Mal, wenn man sie anschaut, anders erzählen; Geschichten für was für i-Gadgets auch immer noch kommen werden – hologrammatische? multisensorische? 3D-Drucker-kompatible? Am Wichtigsten wird sein, dass sie kritische Leser sind, die Qualität zu erkennen und Müll zu vermeiden wissen, auf welcher Plattform auch immer sie ihnen geliefert werden.

Als Juror des Bologna Ragazzi Digital Prize der letzten drei Jahre habe ich bereits einige wunderschöne Buch-Apps für Kinder gesehen, einfallsreich und sehr schön gestaltet, ebenso wie auch viele grässliche. Innovation ist kein Garant für künstlerische Qualität.

Werden die Zwillinge die neueste Technologie verwenden, um ein weiteres marodes Update von Superman zu konsumieren? Wahrscheinlich. Werden grosse Werke der Literatur und anderer Medien erhalten und wieder aufgegriffen werden? Gewiss. Wobei es immer schwierig ist zu prophezeien, welche überdauern und als Klassiker angesehen werden – Anna Karenina? Faust? Harry Potter? The Wire…?

Die Zwillinge werden sich auch an Werken neuer Künstler und Geschichtenerzähler erfreuen, deren Genie sich aus dem Angebotscharakter der Medien speist, mit denen sie zu denken und zu träumen gelernt haben.

Unser Konzept von Literatur hat sich um das Buch herum geformt und definiert sich durch die Einschränkungen der Drucktechnologie. Wie viele Seiten können zusammengeleimt, gelagert und ausgelegt werden und zu welchem Stückpreis? Heute kann ein Text online jene Form annehmen, die ihm zusagt angereichert durch digitale Mittel.

Als mein Sohn ein Baby war, schrieb ich auf einer Schreibmaschine und versandte die Artikel per Post an ein Zeitungshaus, wo sie gesetzt und auf Papier gedruckt wurden, um in einem Laden verkauft zu werden. Dieser einst notwendige Produktionsprozess wird längst der Vergangenheit angehören.

Die grosse Veränderung liegt darin, dass wir heutzutage alle erweiterte Autoren sind, die ihre Worte selbstverständlich und digital verbreiten, mit Freunden teilen und später mit einem sich ausdehnenden Kreis von Leserinnen – über die sozialen Medien, über Blogs, Eigenverlage und möglicherweise unter Einbezug professioneller Vermittler, beispielsweise Verlagshäuser. Aber Autorinnen werden nicht mehr sosehr auf Verlage angewiesen sein wie einst.

Verlage werden ganz gewiss nicht mehr fähig sein zu beurteilen, was der Bezeichnung ‘echte Literatur’ würdig ist; online hat jeder und jede das Recht und die Möglichkeit seine oder ihre Worte kostenlos zu verbreiten, ist aber auch selber verantwortlich für die Qualitätskontrolle. Wir sind Beinaheautorinnen, die selber entscheiden, wann ein Werk genug ausgearbeitet ist, um zugänglich gemacht zu werden. Die Sorge der Leser mit Schlechtgeschriebenem überhäuft zu werden, ist eine Altlast des Druckzeitalters. Das Netz kennt keine Papierstapel auf durchhängenden Regalen. In der Cyberwelt, bewaffnet mit einer guten Suchmaschine, kann die Leserin sich das heraussuchen, was sie will und ohne sich Gedanken über den Rest zu machen.

2014 feiert das World Wide Web seinen 25. Geburtstag. Eine gute Zeit, um anzuerkennen, was für eine revolutionäre Erfindung es war und ist: ein virtueller Ort, an dem alle Menschen ihre Worte (beinahe) umsonst verbreiten können; es ist grundsätzlich ein besseres Gefäss für Ideen als bedrucktes Papier. Was den Verkauf von Verlagswaren angeht, haben unsere Laptops und digitalen Netzwerke die Drucksache und die Institution Bibliothek bereits lange, bevor eBooks und Apps erfunden wurden, verdrängt.

Wie immer wir mehr Kultur auf digitalen Geräten erschaffen und konsumieren, wo Text, Ton und Bild alle ihren Platz haben, nimmt auch das Bedürfnis zu definieren zu, was Film ist, was Web, App, i-Hologram oder Buch. Wie sieht es mit den Websites aus, die wir regelmässig benutzen: Machen wir uns je die Mühe darüber nachzudenken, welche Formate näher am Buch oder am Fernsehprogramm sind? Nein. Es sind Websites.

Wir brauchen keine Bibliotheken oder Buchläden, um digitale Texte ausfindig zu machen, zu kaufen oder auszuleihen. Was wir weiterhin und mehr denn je brauchen, sind öffentliche Orte, um uns zu treffen und auszutauschen, um zu denken, zu lesen und gemeinsam tätig zu werden.

Mark Miodownik, Professor für Materialien und Gesellschaft  an der University College Library und Gründer von gemeinschaftlichen hack spaces, sagte kürzlich auf BBC Radio 4, dass gemeinschaftliche Werkstätten wichtiger seien als öffentliche Bibliotheken. Ich glaube, wir brauchen neue gemeinschaftliche Orte für Schreibende und Lesende, die nicht über ihre Funktion als Lagerhäuser definiert werden, sondern als Workshops der Imagination.

Lesende und Schreibende werden Teil einer Gemeinschaft sein wollen, online und offline, in der sie Kollaborateure und Berater und Freunde finden können, die ihnen dabei helfen, ihre kreativen Projekte umzusetzen und ihren persönlichen Lernprozess voranzutreiben. Diese Orte – Nichtbibliotheken? Beinaheunis? – werden flexibel sein, basierend auf den Bedürfnissen der Benutzerinnen auf ihrer persönlichen Reise durch Information und Imagination.

Im selben Mass werden meines Erachtens grosse Verlagshäuser durch kleinere Produktionsfirmen ersetzt werden, welche Kompetenz in den Bereichen Lektorat, Gestaltung, Technologie, Rechtswesen und Marketing anbieten und trotzdem fähig sein werden, ihre Dienstleistungen und ihre Businessplanung den Anforderungen der einzelnen Projekte anzupassen. Die Monolithen der globalen Distribution wie Google, Apple und Amazon werden möglicherweise unumgänglich bleiben, aber sie werden rechenschaftspflichtig, transparent und insbesondere steuerpflichtig tätig sein müssen. Vielleicht werden diese Riesenungetüme auch zu Fall gebracht und mit der Zeit durch neue ersetzt werden; wer hätte vor zwanzig Jahren schon voraussehen können, dass eine Suchmaschine der Welt mächtigste Firma würde? In zwanzig Jahren wird eine kleine Neugründung von heute die Unternehmenswelt regieren.

Wir werden mit Sicherheit weiterhin digitalisierte Texte vorfinden, die auf Papier ausgedruckt und gebunden wurden. Das papierene Buch ist das Souvenir des Erlebnisses Lesen, und in letzter Zeit erleben wir eine Blüte wunderschön gestalteter Bücher. Wir werden immer hübsche Objekte um uns haben wollen, die ausdrücken, wer wir sind.

In Kürze erwarte ich einen Durchbruch, was neue Formen von verschenkbarer Literatur angeht: Läden, die Broschüren mit neuen und klassischen Texten in kleinen Stückzahlen verkaufen, massgeschneidert für die individuelle Leserin und neben Lebensmitteln und Schnickschnack ausgelegt – jedoch immer mit einem Code, der Zugriff auf den digitalen Text erlaubt.

Ich stelle mir eine Zukunft vor, in der ein neues literarisches Werk mit einer kreativen Idee seinen Anfang nimmt und mit einem Plan für seine Umsetzung, der definiert, welche Medien bedient werden sollen und was für eine Leserschaft mit welchem Mitwirkungsgrad angesprochen werden soll. Aus den Antworten auf diese Fragen entsteht eine Architektur für das Werk, die möglicherweise einen Live-Event beinhaltet, ein transmediales Erlebnis, eine App für das i-Wasauchimmer oder, ja, ein gedrucktes Buch auf Recycling-Papier.

Die grosse Frage ist, ob unsere Enkelinnen und Enkel in zwanzig Jahren ein ähnliches Bedürfnis nach Geschichten haben werden. Heute werden wir durch das Fernsehen und im Film bombardiert mit dramatischen Berichten und Geschichten, während sich unsere Leben gleichzeitig immer weniger linear, immer stärker vernetzt und virtueller gestalten. Werden wir je unser Interesse an Geschichten mit einem Anfang, einer Mitte und einem Ende verlieren? Werden wir je sagen: “Mir ist es wirklich egal, wer es war, ob sie sich verlieben/bekriegen oder ob sie sterben”?

Ich erwarte viel mehr transmediale Geschichten, über verschiedene Plattformen hinweg erzählt, die eine Interessengemeinschaft um ihre Figuren und Themen herum zu bauen wissen, die Live- und Online-Events, spielerische Elemente und aktives Engagement individueller Leser vereinen. Was begann als Form, die kaum mehr als eine schicke Version von sogenannt viraler Werbung war, wächst je länger je mehr zu einer voll entwickelten, seriösen Kunstform heran. Texte werden kollaborativ geschrieben werden von Gruppen, in der verschiedene Kunstformen repräsentiert sind, die ihre eigenen Parameter festlegen werden bezüglich der Grenzen ihrer Arbeiten und den Bedingungen für deren Konsumation.

Ich sehe den Autor der Zukunft als Schamanen, der seinen Weg geht durch sowohl reale als auch virtuelle Landschaften und der seinen Zauber entfaltet mit all jenen Elementen, die es benötigt, um uns dabei zu helfen, unseren Alltag zu transzendieren und in spannende, herausfordernde und phantasievolle Gefilde vorzustossen.

Worauf werden wir diese Kreationen lesen? Der Tablet-PC ist das Gerät, auf das jene, die an der digitalen Zukunft des Buches interessiert sind, gewartet haben: ein angenehmes Gerät, mit dem man es sich im Bett bequem machen und literarische Werke geniessen kann, die neben Text auch Lieder, Bilder, Videos und Kommentarmöglichkeiten beinhalten können, sofern der Autor das wünscht. Auf dem iPad und seinen Nachahmern kann die Literatur ihre Flügel ausbreiten und hoch hinaus über die Grenzen des gedruckten Papiers fliegen. Vielleicht wird etwas Besseres daherkommen. Vielleicht werden wir Geschichten direkt an unsere Gehirne anschliessen. Und vielleicht werden die Leserinnen und Leser eine Rückkehr zum gedruckten Text auf verleimten Papierseiten verlangen.

Was ich garantiere, ist, dass 2034 eine gewaltige Nostalgie herrschen wird – nicht für das Buch, sondern für welches Gadget auch immer, dessen Produktion gerade eingestellt wird. Die Menschen werden schwärmen von seinen einzigartigen Qualitäten und lamentieren, dass die Welt ohne es nie mehr dieselbe sein wird, während andere sich grün und blau ärgern werden über das Grosse Neue Ding, das gerade enthüllt wurde und darüber, wie es die Jugend verderben und das Ende der Kultur bedeuten wird, wie wir sie kennen. Aber unsere Kultur – und unsere Enkelinnen und Enkel – werden sich als viel robuster erweisen.

Aus dem Englischen von Simon Froehling.

Siehe auch den Artikel von Veronika Trubel

Walter Grond

Walter Grond, geboren 1957, österreichischer Romancier und Essayist. Er ist Künstlerischer Leiter von ELiT Literaturhaus Europa.

Walter Grond, born 1957, Austrian novelist. He is artistic director of ELit Literaturehouse Europe.

Walter Grond, geboren 1957, österreichischer Romancier und Essayist. Er ist Künstlerischer Leiter von ELiT Literaturhaus Europa.

Walter Grond, born 1957, Austrian novelist. He is artistic director of ELit Literaturehouse Europe.

Alle Beiträge von Walter Grond

Mein Besuch

0 Einträge Eintrag

Voraussichtliche Besuchszeit

Liste senden