Täglicher Blog über die Europäischen Literaturtage 2022 von "auf buchfühlung"

 

 

Komik und Krise | Tag 1
Donnerstag, 17.11.2022

Ukraine, Slowenien, Portugal, Deutschland, Estland, Italien, Polen, Rumänien, Schweiz, Slowakei, Frankreich, Kroatien und Österreich – Walter Grond nennt in seiner kurzen Eröffnungsrede die zahlreichen Länder, aus denen die Gäste der diesjährigen Europäischen Literaturtage nach Krems angereist sind. Der Austausch mit so vielen verschiedenen Autor*innen aus ganz Europa beschert, so Grond, seit bald 15 Jahren regelmäßig kleine Momentaufnahmen der Befindlichkeiten Europas, aus denen sich – setzt man alle in den vergangenen Jahren gewonnen Bilder zusammen – ein Kurzfilm der europäischen Geschichte ergibt, der hilft, die Zeitenwende, in der wir leben, verständlich(er) zu machen.

19.30 Uhr - Die ukrainische Geschichte besteht aus tragischen Ereignissen. Ihnen mit Selbstironie zu begegnen kann helfen, aus dem Narrativ auszubrechen

Über den nach wie vor unfassbaren, drastischen Einschnitt der jüngsten europäischen Geschichte spricht Katja Gasser in der anschließenden Eröffnungsveranstaltung mit der im deutschen Exil lebenden ukrainischen Schriftstellerin, Journalistin und Übersetzerin Natalka Sniadanko.

„Der Skandal und der Krieg sind immer da. Die Schicksale und das Leid sind immer da,“ erklärt Natalka Sniadanko in den ersten Minuten ihres Gesprächs mit Katja Gasser. Ukrainische Autor*innen haben mehr Material, das sie literarisch verarbeiten können, als die Autor*innen aus dem “Europa erster Klasse”. Irgendwann, hofft Sniadanko, werden all die menschlichen Schicksale Eingang in die große Literatur finden. Jetzt gilt es aber daran zu arbeiten, dass jene, die sie schreiben können, überleben.

Sich gar nicht politisch zu positionieren, wie sie es noch vor einem Jahr von ihrer Literatur behauptet hat, ist für Natalka unvorstellbar geworden. Für sie als damalige Debütantin war der “literarische Karneval”, der 1991 von Iwano-Frankiwsk ausging, mehr als ein Orientierungspunkt. Aus tragischen Ereignissen etwas Komisches zu machen, war für die ukrainische Gesellschaft damals sehr ungewöhnlich und wurde von einem breiten Publikum nicht verstanden, erinnert sich Natalka Sniadanko. Für sie selbst wurde es aber zu einem wichtigen Ausgangspunkt. Die ukrainische Geschichte besteht aus tragischen Ereignissen. Sich nur in diesem Narrativ zu bewegen, sei beklemmend. Ironie, oder vielmehr Selbstironie, könne dabei helfen, aus ihm auszubrechen. 

20.30 Uhr - some comedy creates a collective

Im Gespräch mit Rosie Goldsmith weist die slowenische Philosophin Alenka Zupančič auf den subversiven Charakter des Komischen hin. Sie hat Komik in ihrem Werk “Der Geist der Komödie” aus philosophischer und psychoanalytischer Perspektive erforscht und liefert mit ihren Ausführungen eine wertvolle Gesprächsgrundlage für die nächsten Tage.

Das Komische, so Zupančič, blühe in Zeiten der Krise regelrecht auf. Durch Komik könne man sich abreagieren und erleichtern. Komik helfe, sich aus der Opferrolle zu befreien, paternalistische Strukturen zu überwinden. Durch das Komische könne sich sogar ein kollektiver Widerstand bilden.

Die Frage nach der Komik in Krisensituationen bringt Alenka Zupančič mit dem schwarzen Humor in Verbindung, der aber durchaus auch außerhalb von Krisen existiere. „Es wird gelitten und gestorben, Ungerechtigkeiten passieren, das Leben verschließt sich uns und alles scheint im Dunkel zu liegen,“ doch schwarzer Humor ließe das Licht herein. Er ignoriere diese Dunkelheit nicht, sondern greife sie auf.

Nach den spannenden ersten Gesprächen wurde in der Krypta der Minoritenkirche, in der auch heuer wieder sämtliche Teilnehmer*innen der Europäischen Literaturtage kulinarisch ausgezeichnet versorgt werden, nicht nur angeregt über herrschende Krisen diskutiert, sondern auch herzhaft gelacht.

Komik und Krise | Tag 2
Freitag, 18.11.2022

09.30 Uhr - Von fluiden Identitäten und Humor als Coping-Strategie

Den zweiten Tag der Europäischen Literaturtage eröffnet Rainer Moritz im Gespräch mit der kroatischen Schriftstellerin und Theaterregisseurin Ivana Sajko und der aus Angola stammenden, in Portugal lebenden Autorin und Künstlerin Yahra Monteiro. “Ist es angesichts des Schreckens und Leids unerträglich, über Komik zu reden? Oder ist das Komische etwas, das wie die Hoffnung über den Abgrund von Gewalt und Vernichtung hinausweist,” so lauten die Fragen, denen an diesem Vormittag nachgegangen werden soll.

Ivana Sajkos vor kurzem in der deutschen Übersetzung von Alida Bremer erschienener Roman “Jeder Aufbruch ist ein kleiner Tod” erzählt die Geschichte eines Schriftstellers und seiner Einsicht der Unmöglichkeit eines erfüllten Lebens. Die politischen Geschehnisse, die sein Schicksal beeinflussen, werden mit einer Liebesgeschichte verflochten – wie sich das Private im Leben mit dem Politischen verknüpft.

Nach Gesprächen über die Klassenfrage, über die männliche Perspektive, die die Autorin für diesen Roman gewählt hat und die eigene innere Stimme, die sie beim Schreiben freilegen wollte, kommt sie auf Ironie und Sarkasmus zu sprechen. Sie seien wichtige Türöffner beim Schreiben, da sie selbstreflexiv und damit Türöffner zu einem selbst seien. “Wir können nicht witzig sein, wenn wir nicht ehrlich zu uns selbst sind.”

Yahra Monteiro verarbeitet in ihrem 2021 erschienen Debütroman “Schwerkraft der Tränen” die Suche nach einer Mutter mit der Suche nach der eigenen Identität. Krieg und Kolonialismus, Gewalt und die Geister der Vergangenheit, die nicht abzuschütteln sind, prägen diese Suche, die letztlich nie abgeschlossen sein kann. Denn Identitäten sind fluide, wechseln, schwanken, verändern sich. Das Gespräch kreiste weiter um die Frage der Perspektivwechsel, literarische Vorbilder und die “komische Freude” beim Schreiben. Viele Menschen können sich gar nicht vorstellen, dass das gewöhnliche Leben in Zeiten des Krieges weitergeht – doch das tut es, so Yahra Monteiro. Und Humor hilft dabei, weiterzuleben. In angespannten Situationen sei Komik eine Art Entspannungstechnik.

 

11.30 Uhr - Das Pedal der Groteske so richtig durchdrücken
Der Übersetzer, der gemeinsam mit dem estnischen Schriftsteller und Literaturkritiker Paavo Matsin und dem britisch-armenischen Schritsteller Baret Magarian auf Rosie Goldsmiths Bühne Platz genommen hat, verdeutlichtdeutlicht den großartigen europäischen (Sprachen-)Mix, der die Europäischen Literaturtage auszeichnet. Er liest Auszüge aus Paavo Matsins Text auf Deutsch, übersetzt dessen Redebeiträge live auf der Bühne aus dem Estnischen ins Englische – was wiederum hinter der Bühne für die Zuhörer*innen im Publikum, die sich der KopfhörerKopfhörer bedienen, simultan ins Deutsche gedolmetscht wird.

Im Gespräch mit Rosie Goldsmith stellen Paavo Matsin und Baret Magarian ihre aktuellsten Romane “Gogols Disco” und “Über die Erfindung der Wirklichkeit” vor.

In “Gogols Disko” nimmt Paavo Matsin seine Leser*innen mit in eine vage Zukunft, in der das neugegründete Zarenreich Russland das gesamte Baltikum annektiert und dabei jede Spur estnischer Kultur ausgelöscht hat. Eines Morgens raubt Meisterdieb Konstantin Opiatowitsch einen Mann aus, der sich als Nikolai Gogol entpuppt. Jener ist  nach etwa 170 Jahren von den Toten zurückgekehrt. Allein die Synopsee des Romans zeige, dass dieser voller surrealer Ideen, komischer Charaktere und humorvoller Wendungen sei. Paavo Matsin ironisiere in seinem Werk nicht nur die Angst der Esten vor dem mächtigen Nachbarn; auch die Zerrissenheit zwischen östlicher und westlicher Kultur sei darin angelegt. Mit seinem anarchischen Humor und zahlreichen Bezügen zur Popkultur gelänge es ihm, diese Angst greifbar zu machen und gleichzeitig ins Komische zu drehen.

Auch Baret Magarians “Über die Erfindung der Wirklichkeit” spräche bereits in der Zusammenfassung die Themen der europäischen Literaturtage an. Baret erzählt eine surreale Gesellschaftssatire der Allmachtsfantasien und der Absurdität der gegenwärtigen Medienwelt. Inmitten einer Schaffenskrise kommt dem Schriftsteller Daniel Bloch die Idee, eine Geschichte über seinen langweiligen Freund Oscar Babel zu erfinden, doch Barets Fantasien werden Wirklichkeit. Mit Humor versucht Baret Magarian die bittere Pille der Realität zu versüßen. Er wolle seinen Leser*innen auch schwierige Themen humorvoll präsentieren. Humor sei für ihn die Möglichkeit, diese furchtbaren Realitäten für seine Leser*innen verdaulich zu gestalten.


14.30 Uhr - Vom Lachen, das (nie) im Hals stecken bleibt
Die Diskussion mit der deutschen Schriftstellerin und Historikerin Dana von Suffrin und dem polnischen Schriftsteller und Historiker Konrad Bogusław Bach eröffnete Rainer Moritz mit der Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen seinen Gästen. Beide Romane, von Suffrins “Otto” und Bachs “Der Wisent” sind Debüts, beide Autor*innen sind auch in der Wissenschaft tätig. Während Konrad Bach beidem gleichermaßen mit Freude nachgeht, war das literarische Schreiben im Fall Dana von Suffrins “kannibalistisch” und hat das wissenschaftliche Schreiben abgelöst.

Bachs Roman vereint Absurd-Absonderliches mit antiken Mythen, Situationskomik mit menschlichen Abgründen und jenen der europäischen Geschichte. “Der Wisent” erzählt die Geschichte zweier alternder Männer, Heniek und Andrzej, die nach Holland reisen, um Beatka, Henieks Frau zurückzuholen, die ihn nach 36 Jahren Ehe verlassen hat. Für die beiden Männer beginnt eine Irrfahrt durch das verhasste Europa, die gespickt ist mit zahlreichen komischen aber eben auch tragischen Geschehnissen.

Das Label “schwarzer Humor” würde er seinem Buch nicht geben wollen, erklärt Bach. Schwarzer Humor sei etwas, das das Gefühlsleben stoppe, die optimistischere, weltbejahendere Form des Humors liege ihm deshalb mehr, so Bach.

Dana von Suffrins Roman “Otto” warf schon im Vorfeld seines Erscheinens die Frage auf, ob man mit Mitteln der Komik über den Holocaust sprechen, ob man einen jüdischen Protagonisten so ambivalent darstellen dürfe. Sie habe sich beim Schreiben an den Lebensstationen ihres eigenen Vaters orientiert, entstanden sei ein Roman über die Unmöglichkeit, einen Familienroman zu schreiben.

Während Bachs “Wisent” durchaus ein Entwicklungsroman sei, ist “Otto” das Gegenteil davon, so die Autorin. Keiner kann sich aus der Tyrannei des Protagonisten befreien: weder die Töchter noch die Pflegerin. Doch schließlich resultiert aus eben dieser Tyrannei die Komik des Buches. Ob schwarzer Humor oder nicht – der Unterschied sei für sie nicht so relevant, meint Dana von Suffrin. Ihr bleibt das Lachen nie im Halse stecken.

19.30 Uhr - Worte und Töne
Die Geschichten des vielfach ausgezeichneten rumänischen Schriftstellers Mircea Cărtărescu vewandeln die Minoritenkirche in Krems am Abend des zweiten Verantsaltungstages in eine magisch aufgeladene Spielstätte. Umrahmt von akkordeongetragenen Rythmen (Franziska Hatz, Sasa Shevshenko) und Saxophonklängen (Richie Winkler), die musikalisch einen weiten Bogen von Moskau nach Wien und Graz, zwischen Klezmer, Weltmusik und Jazz spannten, führte Veronika Trubel mit dem Autor ein Gespräch über seine Liebe zu Büchern, seine Kindheit und die Erzählungen aus “Melancolia”. Die Schauspielerin Dorothee Hartinger, Ensemble-Mitglied am Burgtheater, las aus dem mystischen Werk des rumänischen Autors. Ein stimmungsvoller Abend, der die Gäste tief in die üppigen Phantasiewelten des Autors entführte, in der die Innenwelt von Kindern samt ihrer Erfahrungen von Einsamkeit, Trennung und Liebe eine wichtige Rolle spielen.

 

Komik und Krise | Tag 3
Freitag, 19.11.2022

11.00 Uhr - Verborgenes und Erlesenes
"I don't know how Krems is in spring or in Summer. But in autumn it's wonderful", schwärmte MC noch am Freitag Abend. Am Samstagmorgen erlebten er und alle anderen Gäste der europäischen Literaturtage aber einen der seltenen verschneiten Wintertage in der Wachau.

Zur Halbzeit der europäischen Literaturtage machten wir eine kleine Reise durch das große und verschneite Krems. Im Wappensaal der Gozoburg begrüßt der Leiter des Kulturamts Krems die zahlreichen Gäste, die gekommen sind, um Verborgenes und Erlesenes zu hören. Der Kunsthistoriker Günther Buchinger gab Einblick in die Burg, die eigentlich gar keine Burg ist, sondern der Palast des Kremser Stadtrichters Gozo sowie in die Johannes- und Katharinenkapelle. Unter der Balkendecke aus dem Jahr 1255 im Wappensaal lauschte das Publikum den Chellotönen Tana Türkers, der neben Bach Sonaten untere anderem auch eine Eigenkomposition spielte.

Die Schweizer Schriftstellerin Johanna Lier las aus ihrem Buch “Amori. Inseln”, das aus ihrer aktivistischen Arbeit für die in Griechenland ankommenden Bootsflüchtlinge entstand. Für die literarische Verarbeitung ihrer Erfahrungen setzte sie sich intensiv mit dem Essay “Everybody’s Protest Novel” des Schriftstellers James Baldwin auseinander. Es war ihr ein Anliegen im Text den Umgang mit Machthierarchien darzustellen und zu zeigen, woher die Gewalt kommt und wer sie ausübt. Nach der beeindruckenden Lesung und der stimmungsvollen musikalischen Umrahmung wirken die Fragen nach Krise und Menschlichkeit noch lange in den Köpfen der Zuhörer*innen nach.

14.30 Uhr - Musikalischer Spaziergang durch Stein
Am Nachmittag machte sich eine von Albert Hosp geleitete Gruppe auf die Such nach Mozarts Spuren in Stein. Die zahlreichen Zuhörer*innen trotzen der Kälte und lauschten den Klängen den Violinen Gregor Reinbergs und Severin Endelwebers.

 

17:00 Uhr - Komisches und Spielanordnungen
Wie auch schon im vergangenen Jahr durften wir mit unserem Podcast Auf Buchfühlung den Büchertalk gestalten. Unsere Gäste, Barbi Marković, Ivana Gibová und Pascale Osterwalder stellten uns und dem zahlreich erschienen Publikum ihre mitgebrachten Werke vor.

Barbi Marković eröffnete den Spätnachmittag mit einer Lesung aus ihrem 2021 erschienenen Roman “Die verschissene Zeit”, in dem sie uns mitnimmt ins Belgrad der 1990er Jahre und vom Aufwachsen dreier Jugendlicher zwischen Krieg, Inflation und Armut mit den Mitteln der Komik erzählt.

In Ivana Gibovás Arbeiten unterstreichen, neben der Erzählung, auch Bilder und sogar eigens kreierte Schriftarten die drastische Komik und die tiefgreifende Tragik ihres Werks? In Barboras Körper, sie ist die Protagonistin des Romans, lebt seit einer Vergewaltiung eine weiterere Identität, Sylvia. Innerhalb dieser Koexistenz machen sich die beiden Frauen gegenseitig das Leben schwer. Komik entsteht hier vor allem in Form des Kontrasts zwischen den beiden Figuren.

Mit ihren Zeichnungen von depressiven Seifenspendern setzte Pascale Osterwalder den großartigen Schlusspunkt des Abends. Mit Kapitel-Auszügen aus der 2021 erschienen Graphic Novel “daily soap” demonstrierte sie, wie Komik und Krise einander in Bild und Wort treffen können. Das Projekt, das sie schon seit 2008 begleitet, erhielt durch die Pandemie, nicht nur Aufwind durch eine gesteigerte Rezeption, sondern auch ganz neue Aspekte, durch den veränderten Blick der Künstlerin auf ein Alltagsobjekt, das plötzlich an Relevanz zugenommen hat.

Der Abend und die drei Lesungen veränderten nicht nur den Blick des Publikums auf Seifenspender, sondern ließen erahnen, wie vielfältig, innovativ, zeitgeistig und humorvoll die aktuelle junge europäische Literaturwelt auf Krisen, innere wie äußere, reagiert. 

 

20.00 Uhr - Von Anomalien und Special Effects
Zum Abschluss des Tages moderierten Jürgen und Romy Ritte den vielfach preisgekrönten Bestsellerautor und Preisträger und OuLiPien Hervé Le Tellier er seinen Roman “Die Anomalie” mit nach Krems brachte. Wie schon am Freitagabend las die Schauspielerin Dorothee Hartinger aus dem Werk des Autors, musikalisch begleitet wurde der Abend von Diknu Schneeberger und Alexander Sieber an den Gitarren.

“An diesem Roman muss etwas dran sein”, stellte Jürgen Ritte eingangs fest. Schließlich gäbe es bereits 47 Übersetzungen, eine Millionenauflage allein in Frankreich und das weltweite Interesse am Roman ist enorm. Nach Lesung und Gespräch konnte das Publikum diesen Erfolg unmittelbar nachvollziehen.

Komik und Krise | Tag 4
Sonntag, 20.11.2022

11.00 Uhr – Von der Fähigkeit zur Imagination, die zu Toleranz befähigt
Als Abschluss und Höhepunkt der Literaturtage fand am Sonntagvormittag die Verleihung des Ehrenpreises des Österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln an den in Zagreb lebenden Schriftsteller Miljenko Jergović im Klangraum Minoritenkirche statt.

In seiner humorvoll eingeleiteten Laudatio stellte Michael Martens Jergović als einen “Leser, der schreibt” vor, dessen mäandernde Prosa die Vielschichtigkeit seiner Figuren einfängt. Jugoslawien gibt es nicht mehr, so Martens, aber es gibt eine Jugosphäre, die größer ist, als Jugoslawien es je war und deren Bevölkerung über die ganze Welt verstreut lebt. Diese Bevölkerung habe weder Pass noch Fußballmannschaft, aber sie habe einen Dichter: Miljenko Jergović.

In seiner kurzen Dankesrede, für das Publikum von der Dolmetscherin und Autorin Mascha Dabić wortgewandt ins Deutsche übersetzt, wies Jergović darauf hin, dass die Toleranz heute aus anderen Gründen heraus gefährdet war als noch vor einigen Jahrzehnten. Während sie früher durch ideologische Systeme bedroht war, wird die Fähigkeit zur Toleranz heute beschränkt durch die mangelnde Fähigkeit der Imagination. Wir können uns das Leid der Anderen einfach nicht mehr vorstellen. Den Preis für Toleranz, so Jergović, nehme er mit großer Freude entgegen als einen Preis für eben diese Imagination.

Im Gespräch mit Katja Gasser erklärte der Preisträger unter anderem, weshalb grundlos gute Laune zu haben eine ziemlich gefährliche Sache sei, weshalb er bis heute daran arbeitet, seine Kindheit zu verarbeiten und weshalb Europa und der Rest der Welt sich zunehmend balkanisieren.

Musikalisch umrahmt wurde die Matinee vom Duo Hofmaninger/Schwarz, das sich in beeindruckender Weise mit Sopransaxophon und Schlagzeug, Bassklarinette und Schlitztrommel der Urform des Zusammenklingens aus dem Osten widmet und der Veranstaltung einen würdigen Rahmen gab.

“Miljenko Jergović ist ein streitbarer Humanist und ein präziser Chronist gesellschaftlicher Konfliktlinien”, heißt es in der Jurybegründung zur Verleihung des Ehrenpreises des Österreichischen Buchhandels, die HVB Präsident Benedikt Föger vortrug. Und weiter: “Er ist ein im besten Sinne europäischer Erzähler, der nicht müde wird, sich für Toleranz, Offenheit und Frieden einzusetzen.” Welcher Rahmen könnte besser geeignet für die Verleihung dieses Preises sein, als die europäischen Literaturtage Krems, die in den vergangenen Tagen zum 14. Mal genau diese Werte in Gesprächen und Lesungen in den Fokus genommen und diskutiert haben.

Victoria Strobl, Irene Zanol
 Auf Buchfühlung

 

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