Neben den Diskussionen über die aktuelle Krisenbewältigung rückt dabei langsam die Frage in das Blickfeld, wie Europa nach den Corona-Zeiten aussehen wird. Wie wird es um die europäische Integration stehen, wie um die Idee einer Solidargemeinschaft und die Vorstellung einer gemeinsamen Kultur?
Weiter wachsen
von Christian Zillner
Gras ist etwas fürs Vieh, ich bevorzuge, wäre mir ein Stück Grund zu eigen, den Rasen. Der wächst nicht einfach so, den schaffe ich aus dem Baumarkt nach Hause und streue oder rolle ihn über meinen lehmigen Boden. Dann grünt es im Garten, dass mir ganz hoffnungsfroh zumute wird. Damit das so bleibt, sind mir Dünger und Unkrautvertilgungsmittel zur Hand. Nichts anderes kommt mir über Mauer und Zaun, an denen Lebensbäume ihr Gift gegen alles richten, was von außen hereinschleichen möchte. Natürlich vergiften sie auch den Boden in meinem Garten, aber das kümmert mich nicht, ich gehöre ja nicht zu den kleinen Tieren, die sich auf meinem Grund mühen und daran womöglich zugrunde gehen. Der Rasen ist Zeichen für meinen grünen Daumen, den ich den an meinem Grundstück Vorbeiziehenden, zwischen den Lebensbäumen hindurch auf’s Auge drücke. Man mag ihn eintönig finden, aber wer es mehrfarbig haben möchte, soll sich ins Gras verziehen, dort treiben sie es bunt. Die Eintönigkeit erfreut mein Herz, diese eine, saftige Farbe, die keine andere neben sich duldet, ein Grün, so fromm und frank und frei, dass man sich einfach darin wälzen muss, keine Gefahr von Insekten oder Nagern mehr, die anderen bleiben draußen, hier ist mein Paradies, dieser eingefriedete Garten. Um ihn zu bewahren, muss ich jäten, also hinwegschaffen, was nicht zum Rasen gehört, die fremden Wurzeln mit ihren Ablegern, die brauchen wir eh nicht, Ami go home! Gras lasse ich höchstens über Sachen wachsen, die vor den Mauern liegen, wie verendete Tiere oder herbeigewehter Müll, kleine Mugl, auf denen das Gras alles Untamige deckt. Dies ist mein Glacis, mein Vorfeld, dahinter erst beginnt das Rasenreich, durch Mauer, Zaun und die Lebensbäume von der übrigen Welt abgetrennt. Deutsches Weidelgras, Horst-Rotschwingel, Hainrispe, mein Rasen mag eintönig aussehen, einrassig ist er nicht. Schier unerschöpflich erscheint die Auswahl im Baumarkt oder Gartencenter, der Rasen lässt nicht nur eine Rasse zu, halt, das war das falsche Wort, wir sprechen nicht mehr von Rassen, schon gar nicht im Zusammenhang mit meinem grünen Grund, das Gemenge nennt sich nun „Sorten“. Klar, ich musste mich entscheiden, sortenrein sollte er sein, so hat man es mir geraten, und wer bin ich, mich nicht daran zu halten. Ich will ein stolzer Rasenbesitzer sein wie alle in meiner Gasse, im Land und am Kontinent. Eine Rasengemeinschaft aus Grünspechten, die auf den eigenen Busch klopfen und misstrauisch über den Zaun schauen. Dort draußen, nein, von dort kommt nichts Gutes, Sporen und Samen, die keine Lappen sind, setzt sich im Rasenreich an, unbemerkt vorerst, um im Untergrund sein Radikal zu entwickeln, sich zu verwurzeln, und daraus sprießt dann alles, wogegen die Pharmaindustrie zu unserem Schutz kämpft, Tag um Tag, die Milliarden an Forschungsgeldern nicht achtend, und das Überschüssige kommt auch noch denen da draußen zugute. Rein bleibt der Rasen, solange der Segen der Pharmakologen über uns hängt. Man beklagt Opfer, die Pharmaindustrie kann uns nicht vor allem bewahren und einige kleine Wesen, Tiere, genaugenommen, bringt sie um, sicher, aber man, also wir Rasenreichen, beklagen das – darin zeigt sich moralische Größe, das geht bei uns nicht so einfach dahin wie anderswo, in den schmutzigen Winkeln von Wohnvierteln, die wir nicht einmal als solche erkennen würden, ganz zu schweigen vom Rasen, davon hat dort noch niemand gehört oder einen vor seinem Slum ausgerollt. Weil dort kein Rasen ist … ich meine, an diesen Ländern stimmt doch etwas schon grundsätzlich nicht, da wächst überall Gras und geraucht wird es auch noch. Mit verheerenden Folgen, auf Gras hängst du nur herum, vernebelst die Tüchtigkeit und wirst nie Besitzer eines beschaulichen Gartenreichs. Wir aber halten uns an unser Grün, die Hoffnung auf ein besseres Leben, das sich mir schon zeigt, wenn ich nur aus dem Fenster in den Garten schaue. Das nenne ich „Aufklärung“, dieses sanfte Bescheiden am Ende eines aufregenden Lebens in der Fremde mit dem eigenen Stück Grund, das zum Rasenreich wird durch vieler Hände Arbeit, Hände von denen, die selbst nie ein Rasenreich haben werden, aber, hey, was kann ich dafür? Wenigstens sehen sie es bei uns, das Paradies ist machbar, mein Vater hat immer Blaukorn ausgestreut, obwohl sein Rasen eigentlich grün werden sollte, aber was weiß man, die Pharmaindustrie ist eine Zauberwelt, und wir haben sie. Zauber der Tüchtigkeit, oder wie sonst sind wir dazu gekommen? Gift? Lasst mir den Fritz Haber in Ruh, der Mann hat acht Milliarden Menschen möglich gemacht, das bisschen Kollateralschaden mit Zyklon B, wir müssen doch nicht immer mit dem Finger auf uns selber zeigen, die anderen glotzen uns eh durch die Lücken zwischen den Lebensbäumen finster an. Sie hocken in ihrem Gras, kauen darauf herum, lassen es im Kreis gehen, wir aber, wir sind am Rasen genesen, zeigen der ganzen Welt, was eine Harke ist, und wie man mit der Geiß ackert. Also, pardon, da ist es mit mir durchgegangen, das Ackern und die Geiß, das überlassen wir lieber den anderen, wir vertikulieren oder heißt es vertikutieren? Geht beides, sagt das Dudenbuch, Toleranz und Vielseitigkeit bestimmen unsere Kultur. Wir setzen sie mit Augenmaß ein, nicht wie verrückte australische Dichter, Les Murray heißt der Gegenfüßler, und ackert einmal im Jahr seinen Garten mit einem Traktorpflug um. Das nenne ich Rasenschande. Uns aber wollen besorgte Anhänger der Heiligen Kümmernis das Grün madig machen, erklären den Rasen zur grünen Wüste, gar Hölle, früher haben wir zu solchen gesagt, wenn es dir am Rasen nicht gefällt, kannst du hinübergehen, ins Rote Reich, dort wirst du dich freilich vergeblich nach ein Bisschen Grün sehnen. Den Rasen madig machen, ein Wahnsinn! Denn Maden setzten sich stets dort an, wo alles tot ist oder im Absterben begriffen, alt, wehrlos und traurig. Nichts davon wollen wir auf unserem Rasen haben, uns ist die Zukunft grün, das Grauen überlassen wir gern den anderen. Wir haben uns aus dem hohen Gras, in dem wir Jahrhunderte wie Wegelagerer gekauert und auf den Moment gewartet haben, da wir Vorbeikommenden an die Gurgel gehen können, auf den Rasen gerettet. Da steht nun nichts mehr über, kein Halm überragt noch den anderen, die Lektion des alten Tyrannen von Korinth haben wir gründlich gelernt. Alles über Mittelmaß, ratsch, abgeschlagen, sind wir nun auf Augenhöhe miteinander, am Rasen herrscht Gleichheit, die Ungleichen haben sich in die Hochbeete verzogen. Wir aber, wir Rasenkinder mit selbstfahrenden Mähern, wir halten das Unkraut fern, der Kampf gegen die Sporen und Pollen aus allen Weltgegenden eine unermessliche Anstrengung, doch wir meistern sie, wir hüten den Rasen, die Idee von einem geglückten Leben. Die Unglücklichen jedoch, diese Unseligen, die uns Gefahren ins Gartenreich tragen, von denen wollen wir nichts. Was hätte sie uns zu geben außer tödliche Krankheiten, Unvernunft und Rasensprenger? Sie sollen bleiben, wo der Pfeffer und das Gras wachsen, von mir aus können sie beides rauchen, bis es ihnen aus den Ohren qualmt, aber wir wachsen so weiter wie bisher, wir sind die, von denen die Welt den Sondermüll hat. Ich meine, soll der auf unserem Rasen liegen bleiben? Wozu hätten wir uns zu benehmen gelernt und den Müll zu trennen? Uns wächst der grüne Rasen weiter, in die Wüsten der Welt kommt unser Verschnitt, und dafür sollten sie uns eigentlich dankbar sein, wenigstens ein bisschen Dünger für ihre Halden und Gstettn.