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21. November |
Reiserouten | Tag 1 |
Donnerstag, 18. November 2021
tweet von @aufbuchfuehlung. 19:22. / 18. Nov. 21 Bei den europäischen Literaturtagen in Krems angekommen. Bevor wir zur Eröffnung gehen ein Blick auf die Nachrichtenseiten. “Das große Zusperren beginnt”, titelt der Standard, aber heute lautet das Motto noch #reiserouten. Unterwegs um frei zu sein. #staysafe.
18:00 Uhr Jeder Weg führt in Krems an Stein vorbei
Vorbei am Karikaturmuseum, an der Minoritenkirche, an den Weinbergen, an der Donau aber immer auch an Stein, jener zweitgrößten Justizanstalt Österreichs, die mitten in der Stadt liegt. Stein ist ein Mahnmal der Unfreiheit. Wer hierher verlegt wird, der bleibt lange. Der bleibt mitunter für immer. “Wer von einem Ort nicht mehr abreisen kann, der reist in seinen Erzählungen” wird uns Najem Wali später in seinem Impulsvortrag mitgeben. Er wird sich dabei auf seine eigene Gefangenschaft in Bagdad beziehen und sich an seine Zellengenossen erinnern.
Nachdem die Literaturtage 2020 ausschließlich virtuell über die Bühne, bzw. die Bildschirme gingen, nahm Walter Grond, der künstlerische Leiter des Festivals, heute Abend wieder vor einem – wenngleich kleinerem Publikum als gewöhnlich – auf der Bühne des Klangraum Krems in der Minoritenkirche Platz, um die Gäste aus nah und fern zu begrüßen. Aus den Erfahrungen der Lockdowns von 2020 heraus sei das Thema der diesjährigen Literaturtage geboren, so Grond: “Reiserouten. Unterwegs, um frei zu sein.” Die Reisebeschränkungen, die wir weltweit durch die Pandemie erlebt haben, rückten das Thema der Freiheit wieder in den Vordergrund – dass es in einem Moment erörtert wird, an dem in Österreich erneut über Lockdown-Maßnahmen entschieden wird, verleiht der Veranstaltung eine besonders bizarre Aktualität.
“Ich hab viele Kolleg*innen auf der Buch Wien zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder gesehen”, erzählt uns Robert Prosser auf dem Weg ins Hotel. Die Literaturtage sind – nach der Buch Wien letzte Woche – eine der ersten großen Literaturveranstaltungen Österreichs, die Möglichkeit zum Wiedersehen, zum Kennenlernen, zum Austausch bieten. Sie stehen erneut unter dem Zeichen, für längere Zeit die letzte dieser Gelegenheiten zu sein. Und tatsächlich sind die Reiserouten nicht mehr eingeschränkt offen, nicht lesbare QR-Codes oder fehlende PCR-Test-Ergebnisse lassen erahnen, dass die Grenzen bald wieder hochgezogen werden.
18:30 Uhr - Nichts ist sicher. Alles könnte morgen schon ganz anders sein.
Die meisten Autor*innen sind angereist, die die kommen konnten, sind gekommen. Walter Grond ist im Gespräch beim Abendessen trotz aller Unsicherheit etwas erleichtert; vielleicht beruhigt, möglicherweise auch zufrieden. Er ist da. Und mit ihm gestalten diesen ersten Abend in Krems Najem Wali und Cathrin Kahlweit, Peter Frankopan und Rosie Goldsmith. Nur die Jugendlichen fehlen. Die Schulworkshops, die für Donnerstag anberaumt gewesen wären, wurden bereits in der Woche zuvor abgesagt. Corona ist der neue Rahmen, der vorgibt, wann etwas passiert, was passiert und wie es passiert.
Das Thema der diesjährigen Literaturtage wurde am Eröffnungsabend am Beispiel zweier ganz konkreter Reiserouten – der Balkanroute und den Seidenstraßen – beleuchtet. Der in Berlin lebende irakische Schriftsteller Najem Wali war der erste der beiden Impulsgeber des Abends. Er nahm das Publikum nicht nur mit auf die Balkanroute, sondern auf eine Reise durch die Weltliteratur von Büchner über Rilke, Rolland, Strindberg und Joyce bis hin zu Hemingway. Sie alle, so Wali, konnten ihre unsterblichen Werke nur schreiben, weil sie der Versuchung des Reisens nachgegeben haben.
19:13 Endstation Idomeni – das erste Gespräch
Najem Walis Flucht vor Saddam Hussein in den 80er Jahren war eine Flucht, die er mit der eines Syrers 2016 nicht vergleichen kann. Doch der Schmerz ist vergleichbar. Der Schmerz, der vielleicht jeder Reise vorangeht. Der Schmerz, den die Sehnsucht bedingt. Wer nicht wirklich reisen kann, der reist in Erzählungen, meint Najem Wali. Damals, als er in Deutschland angekommen war, da kannte man Omar Sharif. Damals wusste er nicht, was Kanake bedeutet. Sein Studium der Literaturwissenschaften im Irak hatte ihn nicht darauf vorbereitet. “Ich habe Goethe und Schiller gelesen, ‘Kanake’ ist dort nicht vorgekommen.” erzählt er. “Wenn Iraker oder Syrer heute nach Europa kommen, dann ist der Vergleich, der gezogen wird ein anderer. Heute kennen die Menschen keinen Omar Sharif mehr, sie kennen Bin Laden oder Saddam Hussein.”
Der in Großbritannien lebende Global Historiker Peter Frankopan hätte der Versuchung des Reisens gerne nachgegeben, wurde aufgrund von Reisebeschränkungen jedoch digital zugeschaltet. Frankopan lehrt an der Oxford University Globalgeschichte und gab uns einen Einblick in die weltweiten Zusammenhänge unserer Zeit. Frankopan erklärte anhand der Literaturtage in Krems die Bedeutung von Seidenstrassen, jenen Verbindungen, die immer dort entstehen, wo Menschen zusammenkommen, um sich auszutauschen.
20:45 The rockstar of history – Peter Frankopan
Was wäre, wenn unser Blick auf die Welt weniger eurozentristisch wäre? Was würden wir dann über globale Zusammenhänge erfahren? Wo befindet sich das Zentrum der Welt heute? Und was hat es mit den Seidenstraßen der Moderne auf sich?
Denn Seidenstraßen waren, laut Frankopan, niemals exotische Verbindungen, sondern Netzwerke, die Kontinente und Ozeane miteinander verbanden. Über sie flossen Ideen, Waren, Krankheiten und Tod. Hier wurden Reiche gewonnen – und verloren.
tweet von @aufbuchfuehlung. 00:37 Wir haben heute die Balkanroute und die Seidenstraße – zwei vermeintlich bekannte Verbindungen – aus gänzlich neuer Perspektive betrachtet. Danke @NajemWali. Thanks a lot @peterfrankopan. Gute Nacht Krems. Wir sind gespannt, was uns morgen bei den @Elit_observer erwartet. #staysafe
Reiserouten | Tag 2 |
Freitag, 19. November 2021
tweet von @aufbuchfuehlung. 22:42. / 19. Nov. 21 Der #KlangraumKrems hat sich geleert. Nur Festivalhund Kiki bewacht noch die Bühne, auf der heute Abend Felicitas Hoppe & Erik Fosnes Hansen mit Veronika Trubel Platz genommen haben. Wir wissen die Bühne also in guten Pfoten & können alle beruhigt schlafen gehen! @ELit_observer
Rosie Goldsmith, die heute kenntnisreich und mit britischem Charme einen regelrechten Moderationsmarathon bestritten hat, hat am Morgen mit Peter Frankopan und Najem Wali den Faden des gestrigen Abends wieder aufgenommen und die Diskussion über Reiserouten, die Tore nach Europa und die Entstehung einer neuen Weltordnung fortgesetzt. Frankopan verglich die Arbeit des Historikers, wie er sie versteht und betreibt, mit einem Rubik’s Cube: “You have to turn the cube around and look at it from all perspectives”, meinte er – und das verstanden die Diskutant*innen und Lesenden des heutigen Tages zweifellos als Aufforderung. Das Reisen wurde am heutigen Samstag aus verschiedensten Blickwinkeln betrachtet und erörtert. Auch wenn das Drehpuzzle bis Sonntag nicht gelöst werden kann, eines lässt sich heute schon (und wieder mit den Worten Frankopans) festhalten: “It’s all about curiosity.”
11:00 Uhr Should we all have stayed at home?
Eine Frage, die sich kurz vor dem bevorstehenden Lockdown vielleicht einige der anwesenden Gäste gestellt haben, die im Bezug auf reisende Frauen jedoch einen ganz andere Dimension annimmt. Lange Zeit mussten Frauen zu Hause bleiben. Es waren Männer, die die Welt auskundschafteten und mit der Feststellung nach Hause kamen, dass die Welt nun ausgiebig erkundet sei. Doch ist dem wirklich so? Nein, meint die norwegische Reiseschriftstellerin Erika Fatland (“I don’t cook, I study grammar”) und auch Kapka Kassabova (“I have geographical nightmares”), die bulgarische Schriftstellerin und Reise-Journalistin ist vom Gegenteil überzeugt. Denn bisher waren es vor allem Männer, die ihre Reiseerfahrungen niederschrieben. Ihr Blick, ein männlicher. Die Geschichten, die sie aus der Ferne brachten, jene von Männern. Selbstverständlich sei es gefährlich für Frauen, doch die Geschichten, die es jetzt noch zu erzählen und die Entdeckungen, die es jetzt noch zu machen gäbe, würden von Frauen gemacht werden. “Wir haben es leichter, bestimmte Dinge zu sehen. Keinem fremden weißen Mann ist es in einem muslimischen Dorf erlaubt, den Privatbereich einer Frau zu besuchen. Reisenden Frauen hingegen stehen Türen und Tore zu verborgenen Plätzen offen, die es heute noch zu entdecken gibt, Rituale, die kein Mann je gesehen hat. Als Geschichtenjäger*innen sind jetzt reisende Frauen am Zug.”
14:30 Uhr Where can we belong?
“Und wo kommst du eigentlich her?” Um diese Frage drehen sich nicht nur Johny Pits Gedanken in seinem Werk Afropean, sondern auch die zahlreicher schwarzer Europäer*innen. Denn einfach nur von hier zu sein, das geht in viele Köpfe nicht hinein. Die große Herausforderung nach der BlackLivesMatter-Bewegung sei es nun, diesen Moment zu konservieren und weiterzutragen. Vom Konservieren wusste auch Priya Basil zu erzählen. Ihr Filmessay Eingeschlossen/Ausgeschlossen wurde anlässlich der Eröffnung des Humboldt Forums gezeigt. Das wiedererrichtete Berliner Stadtschloss ist in ihren Augen eine „monumentale Hommage an die Kolonialität“. Auf die Frage nach Buchempfehlungen, die jedem Gast am Ende seines/ihres Beitrags gestellt wurde, knüpfte Priya Basil mit einer sehr nachvollziehbaren Feststellung an die Ausführungen ihrer Vorrednerinnen Erika Fatland und Kapka Kassabova an: “Es ist ja sehr nachvollziehbar, dass wir fast nur männlichen (Reise-)autor*innen nennen, wenn man uns nach Empfehlungen fragt, es ist ein Spiegel unserer Gesellschaft, ein erkennbares Zeichen männlicher Dominanz.
18:00 Uhr Das schönste am Reisen ist das Ankommen.
Zum Auftakt der literarisch-künstlerischen Soiree führt Elisabeth Voggeneder, die künstlerische Leiterin des Forum Frohner, die Gäste durch die dort aktuell gezeigte Ausstellung “Park Seo-Bo und Adolf Frohner”. Während eines Stipendiumaufenthalts in Paris lernten sich der österreichische Künstler Frohner (1934-2007) und der aus Korea stammende Park Seo-Bo (*1931) kennen und schätzen. Nicht nur eine Freundschaft verband sie, sondern auch künstlerische Berührungspunkte – über alle kulturellen und Sprachgrenzen hinweg.
Ähnliches erlebten wir in den anschließenden Lesungen von Felicitas Hoppe und Erik Fosnes Hansen, die trotz völlig unterschiedlicher literarischer Verfahrensweisen im Gespräch mit Veronika Trubel verblüfft feststellten, wieviele motivische Zusammenhänge es zwischen ihren beiden aktuellen Texten gibt. “Offenbar verfolgen uns die Motive”, meinte Hoppe, die sich freute, wieder einmal hier an der Donau zu sein und aus ihrem Roman Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm lesen zu dürfen – einer Heldengeschichte, die Leser*innen seit Jahrhunderten quer durch Europa mitnimmt.
In seinem Roman über die Finanzkrise, Ein Hummerleben, nahm uns Erik Fosnes Hansen mit auf eine Reise nach Norwegen. Er erzählt vom Wegbleiben der Gäste in einem norwegischen Hotel, dem eigentlich unausweichlichen Wandel und der Ignoranz der Hotelbesitzer*innen, die diese Veränderungen einfach nicht wahrhaben wollen. Der Niedergang eines einstmals mondänen Hotels kann als Parabel auf unsere Zeit. Auf die Frage der Moderatorin, was für ein Reisender er selbst sei, antwortete Hansen: “Ich mag es, an einem anderen Ort zu sein und mir dort einbilden zu können, ich wäre ein anderer.” - Eine Aussage, mit der sich sicher viele identifizieren können.
Geschichten über das Reisen gab es auch nach den Veranstaltungen noch einige zu erzählen. Etwa als Felicitas Hoppe Robert Prosser und Lana Bastašić erzählte, dass die Geschichte vom fliegenden Robert immer schon ihre liebste Reise-Phantasie gewesen sei.
“Hui, wie pfeift der Sturm und keucht,” zitierte sie aus dem Gedächtnis,
“Daß der Baum sich niederbeugt!
Seht! den Schirm erfaßt der Wind,
Und der Robert fliegt geschwind
Durch die Luft so hoch, so weit;
Niemand hört ihn, wenn er schreit.
An die Wolken stößt er schon,
Und der Hut fliegt auch davon.”
Der heutige Tag hat einmal mehr gezeigt, wie unterschiedlich die Zugänge zum Vereisen sein können, dass Reisende nicht unbedingt auch Reiseschriftsteller*innen sein müssen. Dass jemand, auch wenn es den Anschein haben könnte, oft gar kein Reisender ist, sondern einfach hierher gehört. Und dass, egal, ob man in der Phantasie reist oder real, man mit dem Kopf an die Wolken stoßen kann, wo auch immer man sich gerade befindet.
Reiserouten | Tag 3 |
Samstag, 20.11.2021
10:30 Ein Regenschirm auf Rädern bedeutete für uns die große Freiheit.
Die Ente, niemand kennt den Citroen 2CV unter seinem wirklichen Namen, stand, nicht nur in der Familie von Matthijs Deen, als Sinnbild für die große Freiheit. Auf der E8, der asphaltierten Ader zwischen London und Moskau oder doch präziser, zwischen Kork und Omsk, galt es die Welt zu entdecken. Diese Straßen, die Verbindungslinien zu benachbarten Höfen, später zu benachbarten Städten, noch später, zu benachbarten Ländern, sind es, die den niederländischen Schriftsteller und Reisejournalisten interessieren, mit denen er Erinnerungen seiner Kindheit, aber auch jene als Vater und als Autor verbindet. Denn während sein eigener Vater in den 80er Jahren dazu in der Lage war, sich ein Auto zu kaufen, mühten sich die Großeltern immer noch mit den schwer zu entzifferbaren Abfahrtsplänen der lokalen Eisenbahnen ab. Dort, wo diese Verbindungslinien beinahe gänzlich fehlen, wo es keine Zugstationen gibt und kaum Busverbindungen, dort muss die Imagination herhalten.
In Viseu, einem kleinen Städtchen im Zentrum Portugals, wo der Rio Pavia so weit wie das Meer zu sein scheint und das im Osten von den Alpen abgeschirmt wird, sind die Verbindungen zu entfernt gelegenen Orten rar, hier muss das lokale Theater jene Weite vermitteln, derer man hier nicht so einfach habhaft werden kann. Patricia Portela ist es, die die Welt in Viseu auf die Bühne bringt. Die Relevanz von Straßen und Handelsrouten, besonders an jenen entlang von Flüssen, ist nach wie vor ungetrübt. Will man heute von Amsterdam nach Wien reisen, dann folgt man erst dem Rhein, dann dem Main, dann dem Inn und schließlich der Donau. Jenem Fluss und jener ehemaligen Handelsroute, an deren Ufern wir uns heute befinden und an deren Ufern die Venus von Willendorf gefunden worden ist, die Moderator Rüdiger Wischenbart mitgebracht hat.
11:30 Uhr I like the silence of ancient languages.
Niemand weiß, wie Altgriechisch wirklich klingt. Es gibt keinen Vergleich. Von außen kann niemand die Thesen von Sprachforscher*innen bestätigen oder aber widerlegen, das sei der Grund dafür, weiß Andrea Marcolongo, dass in kaum einer anderen Disziplin Präzision so relevant sei. Es sei aber auch der Reiz, den Alte Sprachen auf sie ausüben würden. Neben der Liebe zur Sprache sei es jene zur Mythologie, die ihr Schaffen beeinflusst. Denn Mythologie sei nicht Geschichtsschreibung. Mythologische Geschichten seien die geographische Angaben, wie Wegmarkierungen, an denen sich auch ein moderner Mensch orientieren kann. Sie können uns helfen, uns zu orientieren und unseren Weg durchs Leben zu finden. Andrea Marcolongo würde sich selbst nicht und niemand anderen als Autor bezeichnen, denn wie Felicitas Hoppe tags zuvor ist sich Andrea sicher, dass Schriftsteller*innen bereits vorhandenes Material wiedergeben, neu komponieren, allenfalls in adaptierter Form übertragen würden. Es seien die Übersetzungen bereits vorhandener Geschichten, ganz ähnlich der Übersetzung, die Karin Fleischanderl angefertigt hatte. Als ein Handwerk will Fleischanderl ihre Tätigkeit als Übersetzer*in dabei verstehen; sie las Passagen aus ihrer Übersetzung von Marcolongos Das Meer, die Liebe, der Mut aufzubrechen.
17.30 Quer durch die Welt
Ein gänzlich neues Format an diesen drei Tagen war der Büchertalk mit Elisa Shua Dusapin, Lana Bastašić und Robert Prosser, den wir im Rahmen unseres Podcasts Auf Buchfühlung moderieren durften.
Unter dem Motto “Quer durch die Welt, empathisch, analog, digital” lernten wir drei ganz unterschiedliche Texte kennen, die aber nichtsdestotrotz viele Verbindungen und Gemeinsamkeiten aufweisen. Im Vordergrund steht die Frage der/den Identität(en), die in allen drei Büchern durch das Reisen und anhand des Reisens gestellt wird.
Elisa Shua Dusapin, deren Roman Winter in Sokcho unmittelbar vor Festivalbeginn mit dem renommierten National Book Award ausgezeichnet wurde, las auf Französisch und verwies besonders auf die Limitation nationaler Grenzen. Die Sprache Elisa Shua Dusapins passt sich dem winterlichen Szenario ihres Werkes wundervoll an, sie ist präzise und klar - und so wie das Nebensächliche in Sokcho unter Schnee begraben ist, kehren auch ihre Sätze nur das Wesentliche heraus.
Mit Lana Bastašić und ihrem Roman Fang den Hasen begaben wir uns auf einen Roadtrip durch die Länder des ehemaligen Jugoslawiens. Der geschickt komponierte und anspielungsreiche Romans über Freundschaft und über das Aufwachsen zweier völlig unterschiedlicher Frauenfiguren in einer Männerwelt, ist nicht in erster Linie die Geschichte des Zerfalls Jugoslawiens – der Krieg findet nur in Andeutungen Eingang in den Roman – sondern vor allem ist Fang den Hasen ein Roman über die Frage nach der eigenen Identität und dem, was sie bedroht, wenn ein Riss durch einen Vielvölkerstaat geht und seine Bewohner*innen auseinander dividiert.
Robert Prossers Gemma Habibi ist ein Boxroman, aber auch ein Roman über unsere unmittelbare Gegenwart, über Flucht und Migration – und er hat einen weiteren Erzählstrang, in dem zwei Protagonist:innen nach Ghana reisen. Es ist ein Roman, der drei Länder – wenn man so will drei Welten – miteinander verbindet: Kurdistan, Wien und eben Ghana.
Es war ein multilingualer Abend, an dem auch immer wieder deutlich wurde, wie wichtig Übersetzer*innen und Dolmetscher*innen als Vermittler*innen von Literatur sind: Ob wie heute Abend für das deutsch-französische Gespräch auf der Bühne, die ganzen Tage über synchron dolmetschend im Hintergrund oder – wie Rebecca Zeinziger, Bastašićs Übersetzerin – im Publikum. Sie alle ermöglichen es überhaupt erst, Werke auf Reisen zu schicken.
20:00 Uhr Der Sternenstaub, der auf uns herabzuregnen scheint, ist am Ende nur Staub
Es sind die sphärischen Klanglandschaften, die das musikalische Trio Brot & Sterne mit Drehleier, Trompete, Perkussion und Hang in den Klangraum Krems brachten und die gepaart mit der Lesung der Burgschauspielerin Dörte Lyssewski aus Christoph Ransmayrs Atlas eines ängstlichen Mannes die Moderatorin Katja Gasser zu den Worten verleiteten: “Es klingt, als lebte die Musik aus deinen Büchern.”
Nachdem Ransmayr aus seinem aktuellen Roman Der Fallmeister las kreiste das Gespräch um seine Abhängigkeit von Geschichten. Er sprach davon, dass der beste Schutz gegen die Angst vor dem Fremden die Konfrontation sei, also das Reisen an sich. Er erzählte von persönlichen Verirrungen als junger Menschen – glücklicherweise habe er es nicht geschafft seinen Heimatort Roitham bei Gmunden zum Maoismus zu bekehren – und der Gefahr, die von der Dummheit ausginge. Ransmayrs Worte waren eine Mahnung, ein Schrei nach Vernunft an einem Tag, an dem keine hundert Kilometer an der Donau entlang – in Wien – Zehntausende gegen die Covid-Maßnahmen protestierten.
Reiserouten | Tag 4 |
Sonntag, 21. November
11:00 Uhr Niemand von uns ist eindeutig
Zum Auftakt der Matinee zu Ehren von Navid Kermani erfüllten die Altsaxophon- und Kontrabass-Klänge des Duo 4675 die Minoritenkirche. Noch einmal haben sich die Festivalbesucher*innen am heutigen Sonntagvormittag hier zusammengefunden – zum Anlass der Verleihung des Ehrenpreises des Österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln an Navid Kermani. “Die Verleihung in der Minoritenkirche ist das österreichische Pendant zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Paulskirche”, so Benedikt Föger, der Präsident des HVB, in seiner Begrüßung. Es sei kein Zufall, dass beide Preise, die der Buchhandel vergibt – der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und eben der heute verliehene – ähnliche Namen tragen. Frieden und Toleranz, das sind die Eckpfeiler, auf denen Literatur fußt.
Der Laudator, Dietrich Diedrichsen, wies in seiner Rede auf die Möglichkeiten und Grenzen andere zu verstehen hin, auf den Quellcode der Offenheit, der Voraussetzung für poetische Schönheit sei.
Der Preis sei in zweierlei Hinsicht besonders wichtig für ihn, freute sich der Preisträger. Einerseits, weil es ein österreichischer Preis ist. Für einen Schriftsteller gibt es keine Grenzen außerhalb des Sprachlichen. Die deutsche Sprache, die deutschsprachige Literatur sind Kermanis Heimatland und die Geburtsstätten der modernen deutschsprachigen Literatur seien eben Wien und Prag – viel stärker noch als etwa Berlin. Den Preis versteht er als eine Art Eingemeindung.
Aber es ist nicht nur ein österreichischer Preis, es ist andererseits auch einer, den der Buchhandel vergibt. Allen Veränderungen von Buchmarkt und Literaturbetrieb zum Trotz, bleiben die Leser*innen den Buchhandlungen treu. Viel mehr als früher hängt an den Buchhändler*innen, auch in für die Branche schwierigen Zeiten konnten sich die Autor*innen auf sie verlassen, während Amazon den Buchversand zwischenzeitlich sogar einstellen wollte, weil Bücher nach dem Verständnis des Großkonzerns mit anderen “Gebrauchsgütern” eben nicht mithalten könnten.
In seiner Lesung aus dem Roman Dein Name nahm Kermani uns – ein letztes Mal in diesen Tagen – auf eine Reise mit. Diesmal ging es nach Teheran, von wo aus der Großvater des Erzählers nach Deutschland aufbrach.
Das Ideal des Weltbürgertums, entstanden aus dem Reisen – so Kermani im anschließenden Gespräch mit Katja Gasser – sei letztlich die einzige Chance, die Krisen unserer Zeit zu lösen. Pandemie und Klimawandel seien nur global zu lösen, denn wie die Literatur kennen auch sie keine Grenzen.
Es ist die letzte Veranstaltung an diesem langen Wochenende der europäischen Literatur in Krems. Man ist zusammengerückt und die Atmosphäre ist hier, wo ganz Europa auch wirklich versammelt zu sein scheint, familiär, warm und einander zugewandt. Die Gastfreundschaft, von der Pryja Basil in ihrem Panel gesprochen hat, jene Haltung, mit der “das Fremde” überwunden werden kann, sie ist spürbar. Auch Navid Kermani beruft sich in seinen Dankesworten auf diese Gastfreundschaft, auf das Verstehen, das Einfühlen, das Mitfühlen. Wir verlassen Krems wehmütig. Aus mehreren Gründen; wissen wir doch, dass ein Wiedersehen vielleicht erst später, viel später wieder möglich sein wird.