Keine Erwartungen | Europa nach Corona | 7.5.2020

Text von: Rainer Moritz
elit Literaturhaus Europa ladet europäische Autorinnen und Autoren dazu ein, diesen Blick unter dem Eindruck der Krise zu wagen. Diese Texte erscheinen ab 23. April 2020 wöchtentlich hier:

Neben den Diskussionen über die aktuelle Krisenbewältigung rückt dabei langsam die Frage in das Blickfeld, wie Europa nach den Corona-Zeiten aussehen wird. Wie wird es um die europäische Integration stehen, wie um die Idee einer Solidargemeinschaft und die Vorstellung einer gemeinsamen Kultur?


Keine Erwartungen
von Rainer Moritz

Am 9. September 2001 flog ich nach New York – im Auftrag meines damaligen Arbeitgebers, des Hoffmann und Campe Verlags. Zusammen mit Lektor Jens Petersen machten wir uns zu unserer allherbstlichen Tour durch Manhattan auf. Eine knappe Woche lang wollten wir im Stundenrhythmus die einschlägigen Agenturen aufsuchen, um uns von Büchern und Manuskripten erzählen zu lassen, die auf dem deutschen Markt für Furore sorgen könnten.
Zwei Tage später, am 11. September 2001 gegen 9 Uhr morgens, stand ich nicht weit vom Central Park entfernt in einem Jeansladen, weil mir vor meinem ersten Agenturbesuch etwas Zeit geblieben war. Binnen weniger Minuten brach die Welt von Manhattan zusammen. Auf einem TV-Bildschirm sah ich, wie die Zwillingstürme kollabierten, wie Menschen starben, wie Menschen zu Fuß Richtung Norden flüchteten. Erst eineinhalb Wochen später durften wir zurückfliegen, verstört, erleichtert und mit der Gewissheit, die alle Kommentatoren im Brustton der Überzeugung hinausposaunten: Nach 9/11 werde die Welt nicht mehr die gleiche sein, alles werde sich grundlegend ändern (müssen).
Solche wohlfeilen Sätze habe ich seit 2001 oft gehört, immer wieder nach furchtbaren Terroranschlägen, Finanzmarktkrisen oder Naturkatastrophen. Alles stehe auf dem Prüfstand, die (westliche) Welt könne auf keinen Fall weiter wirtschaften wie all die Jahrzehnte zuvor – so klang die Gebetsmühle.
Jetzt, inmitten der Corona-Pandemie, höre ich diese Sätze erneut, Tag für Tag. Ein Beispiel gefällig? In einem Interview mit dem Berliner Tagesspiegel (vom 21.4.2020) sagt der kluge Soziologe Heinz Bude, der 2019 mal wieder den Finger am Puls der Zeit hatte und das Buch Solidarität. Zukunft einer großen Idee veröffentlichte: „Wir werden nicht in eine Situation zurückkehren, die sein wird wie die, bevor uns das Virus ereilt hat. Wir erleben gerade eine weltgeschichtliche Zäsur. (...) Es gibt eine grundsätzliche Veränderung von Werten, von Vorstellungen der politischen Organisation und von individuellen Verhaltensorientierungen.“
Ich höre das wohl, doch mir fehlt der Glaube daran, dass selbst diese Pandemie, die den Alltag der Menschen in unseren Breiten so verändert hat wie keine Krise zuvor, unser wirtschaftliches System und unser Verhalten nachhaltig beeinflussen wird. Nein, es gibt die Sonntagsreden, und es gibt das, was von der Wirtschaft gefordert und von der Politik schrittweise umgesetzt wird. Unsere Gesellschaft funktioniert nur, wenn die Wirtschaft so schnell wie möglich wieder angekurbelt wird – als Zurück-zu-dem-wie-es-vorher-war. Gewiss, es gibt seit Jahren – auch im Zeichen der Klima- und Umweltdebatten – ein wachsendes Unbehagen an unserer Lebensweise. Doch was hat sich wirklich geändert, was wird sich ändern? Sprechen wir uns in einem Jahr wieder.
Ach ja, und dann gibt es da noch „Europa“. Als ich jung war, habe ich an diese Idee geglaubt, nicht leidenschaftlich, aber doch mit dem Zutrauen, dass zumindest ein Teil Europas nicht nur durch gemeinsame Wirtschaftsinteressen, sondern auch durch gemeinsame Wertvorstellungen verbunden sei. Das zu propagieren, selbst wenn es oft nur in Leerformeln geschah, gehört zu dem wenigen, was mir an Bundeskanzler Kohl imponierte.
Und heute? Europa ist in Einzelinteressen zersplittert; Autokraten in vielen Ländern interessieren sich nur für ihr eigenes Süppchen, und welchen marginalen Einfluss eine EU-Kommissionspräsidentin wie Ursula von der Leyen während der Corona-Pandemie hat, sieht man Woche für Woche.
Auf Europa kommt es nicht mehr an. Nein, ich habe keine Erwartungen (mehr) an Europa. Schadensbegrenzung, so lautet die Schwundstufe meiner utopischen Vorstellungen. Das ist dürftig und traurig, ich weiß, aber vielleicht realistisch.

Rainer Moritz

Rainer Moritz, geboren 1958, deutscher Literaturkritiker und Autor. Er ist Leiter des Literaturhauses Hamburg.

Rainer Moritz, born 1958, German literary critic and writer. He is director of Literaturhaus Hamburg.

Rainer Moritz, geboren 1958, deutscher Literaturkritiker und Autor. Er ist Leiter des Literaturhauses Hamburg.

Rainer Moritz, born 1958, German literary critic and writer. He is director of Literaturhaus Hamburg.

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