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Donnerstag 21.11.2019
Vom Unglück des Schreibens, dem Österreichischen Gewerkschaftsbund und dem Kant’schen Imperativ
Blogeinträge sind ja per se schon mal ein eher flüchtiges, kurzlebiges Literaturgenre, vor allem, da man sie meist spätnachts noch nach dem erlebten Tag runterrattern muss, da das anstehende Kulturprogramm am nächsten Tag wieder so voll ist, dass man gar keine Zeit zum Niederschreiben des vorherigen Tages mehr hat. Deshalb sind solche Texte auch eher wenig bis gar nicht lektoriert und der Anspruch auf korrekte Rechtschreibung dürfte sich auch in der Hoffnung erschöpfen, dass die in der Schule eingelernten Ausbesserungsautomatismen einen über die holprigen Passagen drüber retten, aber so ist das nun mal: Literatur ist eine diffuse, wirre Angelegenheit.
Krems ist auch eine diffuse, wirre Angelegenheit, zumindest von der Programm- und Nebeldichte her. Alles überschlägt sich, alles ist gleichzeitig und überall und die ganze Stadt wird plötzlich von Dutzenden Literaten aus ganz Europa geflutet. Da ist man eh schon nervös genug, dass man den Festivalblog für ein riesiges Literaturfestival schreiben soll, und dann auch noch, ohne geschlafen zu haben, weil man sich natürlich die letzte Nacht rastlos im Bett gewälzt hat, aus lauter Angst, man könnte nicht ausgeschlafen genug sein für den morgigen Workshop und dann kommt man am Bahnsteig an und die Suppe schwimmt dermaßen dickflüssig in der Luft, dass man erstmal ganz nah zum Bahnhofsschild hingehen muss, um sicher zu gehen, dass man überhaupt den richtigen Zug erwischt hat. Die Augenringe dürfte zumindest niemand gesehen haben.
Die Stimmung hebt sich beträchtlich, als der Workshop beginnt und die 40 SchülerInnen (vor denen ich schon Angst hatte, sie würden als geschlossener Anti-Bock-Mob auftreten) wirklich aufrichtige und ehrliche Lust am Schreiben mitbringen. Die Schüler kennen sich gegenseitig fast nicht, wie ein kleines Kennenlernspiel zu Tage fördert. Sie scheinen aber alle in einen Haufen Tages- oder Wochenaktivitäten eingespannt zu sein. Während dem Workshop bereiten sie sich schon halb auf anstehende Diskussionsrunden zu Themen an deren Wortlaut ich mich zwar nicht mehr erinnern kann, aber die ungefähr „Alle rennen – Arbeit in einer postindustriellen Welt“ oder „Was heißt es Erwachsen zu sein?“ hießen, also durchaus Probleme ansprechen für die ich mich selbst noch nicht einmal gewappnet fühle und ich glaube auch sonst kein Erwachsener. Die Jugendlichen wirken aber recht zuversichtlich. Mit Geschenkkugelschreibern und Geschenknotizbüchern von eljub (Europäische Jugendbegegnungen) sitzen sie da, auf den Bändern ihrer Festivalpässe steht „I Love Niederösterreich“ und „Drugs don’t work“, was ich als ebenso unglückliche wie zutreffende Kombination empfinde, nachdem ich mir vier Espressos gegen die Müdigkeit reingestellt habe.
Wir lassen die Kinder versuchsweise nach dem Vorbild Georges Perecs einen kurzen Text ohne den Buchstaben „A“ schreiben, was erstaunlicherweise in erster Linie Anglizismen nach sich zieht: Gesellschaften werden zu societies, Arbeit wird zu work, Spaß wird zu fun, krass zu cool. Anschließend sammeln wir verschiedene, möglichst breit gefächerte Literatur-Genres, Adjektive, Nomen die man anfassen kann (Bäume, Steine, Säulen, Häuser, George Clooney) und Nomen die man nicht anfassen kann (Freiheit, Liebe, Energie, Gott, Satan). Überhaupt scheinen die Impulsbegriffe, die von den Schülern kommen, durchwegs religiös zu sein, was an dem Land liegen könnte, oder an Krems, oder eher an dem Umstand, dass der Workshop und eigentlich auch das ganze Literaturfestival in einer Kirche stattfindet, die ihrerseits allerdings vorher ein Salzspeicher war, wie Robert Menasse später am Abend betont.
Die Genres, auf die wir kommen sind: „Krimi, Schummelzettel, Liebesbriefe, Gedicht, Strafanzeige, Kassenbon, Geburtstagskarte, SMS/Whatsapp-Chatverlauf, Todesanzeige, Gelübde und Gebet, und abgesehen vom Kassenbon entsteht auch tatsächlich zu jedem Genre ein Text.
Die fünf Titel, die wir als Schreibvorgabe aus den gesammelten Wörtern ziehen und mit jeweils einem Genre kombiniert werden sollen, muten ebenfalls recht spirituell an:
1. Das wunderschöne Fenster des spektakulären Heiligen Geistes
2. Der vielfältige Hass der kleinen Qualle
3. Der herzzerbrechende Boden der religiösen Traurigkeit
4. Die ehrenhafte Säule des betrunkenen Zusammenhalts
5. Die gewissenhafte Steige der schmerzenden Seele.
Daraus entstehen mal lustige, oft auch schmerz- und sehnsuchtserfüllte und durchwegs kritische Texte über Liebe, Vergangenheit, Zukunft, Pro-Religions-Brandreden, Anti-Religions-Brandreden, Anti-Exfreund-Brandreden und Anti-FPÖVP-Brandreden. Viel Gefühl, Hass, Liebe und das eine oder andere Schimpfwort fließen zu Papier und werden schlussendlich vor der gesammelten Klasse lautstark performt und spätestens mache ich mir keine Sorgen mehr darum, dass diese Kinder sich gut in den Diskussionen und durch die Zukunft schlagen werden.
Gleich darauf gibt es auch schon die erste Diskussion. Zwar ohne Schüler, dafür aber mit Robert Menasse und Doron Rabinovici (der innerhalb weniger Stunden als Diskussionspartner eingesprungen ist). Das Gespräch ist auf Deutsch, wird jedoch für anderssprachige Teilnehmer abwechselnd von zwei Live-Dolmetscherinnen per Headset übersetzt, was ein erstaunliches Bild verursacht, wenn der halbe Raum lacht und die andere Hälfte noch zwei Sekunden auf die Übersetzung wartet und dann ebenfalls lacht, wie ein emotionales Echo, dass chaotisch verstreut durch die Menge vor und zurück springt.
Hauptthema des Abends, wie des ganzen Festivals ist das „gute Leben“ und Menasse stellt gleich den Philosophiestudenten in mir zufrieden, als er mit einem kurzen Impulsreferat über die Philosophiegeschichte der Eudaimonie beginnt, von Aristoteles über die Stoa bis hin zum Österreichischen Gewerkschaftsbund. Der Kapitalismus wird erwähnt, der Klimawandel wird erwähnt, Greta Thunberg wird erwähnt, die ich heute bereits getroffen habe, als Deix-Karikatur im Schaufenster des Karikaturenmuseums.
Die Rede kommt auf die Großelterngeneration der beiden Autoren: Menasses Opa, der nach dem zweiten Weltkrieg beschlossen hat nur noch zu tun was in glücklich macht und von da an Arabica-Bohnen-Vertreter wurde, um seine Tage in fünf bis sechs verschiedenen Kaffeehäusern zu verbringen. Rabinovicis Familie, die um die Welt reiste, mal mehr, mal weniger freiwillig, aber stets mit Optimismus im Gepäck. Es wird festgestellt, dass purer Egoismus für ein glückliches Leben nicht ausreicht, genausowenig reiner Exzess: „Drugs don’t work.“
Das Gespräch geht über zum Glück des Schreibens. Beide der erfolgreichen Bestsellerautoren einigen sich darauf, dass das Schreiben eine furchtbare Qual ist, die einem nichts als Leid und Unglück einbringt, aber immer noch besser als die meiste Lohnarbeit sei, da sie einen nicht-entfremdeten Arbeitsprozess darstellt, denn wie festgestellt wird: „Schreiben ist schlimm. Aber nicht schreiben ist noch schlimmer. Und am Schreiben gehindert zu werden ist das allerschlimmste.“ Dem stimme ich zu und mache mir eine
letzte Notiz, bevor mein billiger Geschenkkugelschreiber von eljub in meinen Händen auseinanderfällt. Am Ende bleibt Nebel, fluides, schwammiges, diffuses Glück, Unsterblichkeit als Hölle oder Generallösung und wie immer der Kant’sche Imperativ.
Freitag, 22.11.2019
I don’t care if you lose your culture
Der zweite Festivaltag hat begonnen und der Nebel hat sich wie auf Knopfdruck vollständig aufgelöst. Beim Frühstück schreibe ich den Blog vom Vortag und mache mich dann auf den Weg ins Festivalzentrum bei den Minoriten. Erst jetzt bei Sonnenschein merke ich, dass man am Weg zu den Lesungen nicht an einer, sondern gleich an zwei Justizanstalten (Krems und Stein) vorbeigeht. Die Polizisten am Eingang scheinen sich jedoch eher zu langweilen. Sonderlich viele Verbrechen scheint es hier nicht zu geben, auch wenn sich der eine oder andere Festivalteilnehmer vor den unbeleuchteten nächtlichen Straßen Steins fürchtet.
Die Veranstaltungssprache wechselt heute gleich mal auf Englisch und die beiden Dolmetscherinnen, wechseln die Übersetzungsrichtung. Überhaupt bin ich völlig fasziniert von den Übersetzungskünsten auf diesem Festival, aber dazu später.
Ich bin etwas spät dran und setze mich daher auf den einzigen noch leeren Platz neben einer Gruppe halbstarker Burschen, die im Gegensatz zu den Kindern vom Workshop nicht wirklich wirken, als wären sie freiwillig hier. Ida Hegazi Høyer aus Norwegen und Annelies Verbeke aus Gent sprechen über Liebe, Liebe zwischen Fremden, Lieben zwischen Bekannten, die Anonymität der Großstadt und die Durchsichtigkeit des Landlebens. Die Diskussionen wirken heute insgesamt viel emotionaler, praktisch orientierter und direkter als die gestrige eher hochgestochene, abstrakt-philosophische Abhandlung über das gute Leben. Heute also gutes Leben zum Anfassen. Vom Versuch, ein guter Mensch zu sein und überhaupt mit anderen in Kontakt zu treten. Jedes Mal wenn das Gespräch das Thema Sexualität streift kichern die Jungs links und rechts von mir und sie werfen sich an mir vorbei Blicke und Gesten zu und legen sich im Laufe des Vortrags überhaupt allerhand kreative Strategien zurecht, um mit ihrer Rastlosigkeit klarzukommen. Wenn jemand fertig gelesen hat, applaudieren und jubeln sie ostentativ sarkastisch laut, bis ihre Lehrerin sie schließlich zurechtweist. Daraufhin gehen sie dazu über, sich gegenseitig anzustupsen oder ins Bein zu zwicken. Die Diskussion auf der Bühne wechselt zur Cultural-Appropriation-Frage, die noch öfter im Laufe des Festivals aufkommt. Darf man denn heutzutage überhaupt aus der Sicht anderer Menschen schreiben, in deren Perspektive man quasi kein Recht hat, sich hineinzuversetzen. Der Protagonist aus Annelies Verbekes Roman ist schwarz und zieht nach Flandern aufs Land, wo er etwas aus der Durchschnittsbevölkerung heraussticht. Zwei Jugendliche neben mir äffen die Autorin still beim Reden nach. Sie scheinen einen eher vorbehaltlosen Zugang zur Cultural-Appropriation-Frage zu haben. Als sie erneut ermahnt werden, gehen sie dazu über Ploppgeräusche mit dem Mund zu machen und als sie ein drittes mal ermahnt werden, schaffen sie es einige Minuten zuzuhören, brechen aber in völliges Lachen aus, als während der Lesung das Wort „pussy“ fällt.
Die Diskussion auf der Bühne scheint sich hingegen auf die Frage Altruismus VS Selbsterfüllung zuzuspitzen. Während Annelies Verbekes Protagonist laut eigener Aussage eine der vielen Jesusfiguren darstellt, die ihr in ihrem Schaffen immer wieder passieren, versucht die Protagonistin aus Ida Høyers Roman (die möglicherweise auch drei Protagonistinnen sein könnte, da das Buch in Norwegen nicht als
Roman sondern als Kurzgeschichtensammlung in drei getrennten Teilen erschien) eigenständig zu sein und ihr eigenes individuelles Glück zu finden.
Das anschließende Gespräch zwischen Ghayath Almadhoun und Priya Basil knüpft an diese Frage an. Ghayath Almadhoun spricht über die Komplexität der Frage „How are you?“, auf die ihm keine simple Antwort einfällt. Was antwortet man, wenn die eigene Familie unter Bombenbeschuss ist und man selber in einem der friedlichsten und reichsten Länder der Welt wohnt. Der aus Palästina und Syrien stammende und inzwischen in Schweden bzw. der ganzen Welt lebende Autor verdeutlicht diese Absurdität mit dem Bild, dass seine Mutter ihn anrief, als sie hörte, dass in Schweden ein schlimmer Sturm im Anmarsch sei, während an ihrem Ende der Telefonleitung eindeutig Bombenexplosionen zu vernehmen waren. Man gewöhnt sich an so etwas. Im ersten Jahr macht man sich Sorgen, danach ist es normal. Mit der Gewöhnung kommt der Normalzustand und erst dann merkt man, was aus dem Normalzustand herausfällt. Damit leitet Almadhoun auch die Beobachtung ein, die er bei einigen anderen aus Syrien geflüchteten machte. Sobald sie ein halbes Jahr an einem neuen Ort seien, käme die Posttraumatische Belastungsstörung zu Tage. Er würde deshalb immer weiterziehen und nicht zu lange an einem Ort bleiben, damit er nie eingeholt würde.
Die aus Großbritannien nach Deutschland gezogene Priya Basil spricht ebenfalls über die Absurdität der Ländergrenzen, vom Brexit, über Staatsbürgerschaftsänderungen und kulturelle Unterschiede.
Ich notiere mir irgendwann im Gespräch einen wunderbaren Ausspruch, den ich leider im Nachhinein keinem der DiskussionsteilnehmerInnen mehr zuordnen kann, aber trotzdem gerne widergeben möchte: „So what if someone loses their culture? I don’t care if you lose your culture. I want all Polish people to go to China and all Norwegians to eat Indian food, I don’t care!” Ein Unterfangen, zu dem es sicher auch ÜbersetzerInnen braucht. Wie auch bei dem anschließenden Mozart-Abendspaziergang mit Streichmusik, wo ich neben der Musik und der Rundführung fast noch beeindruckter von der Dolmetscherin bin, die souverän in Echtzeit der nicht-deutschsprachigen Hälfte der Gruppe die Erläuterungen und Funfacts über Mozarts kurzer Zeit in Stein übersetzt. Selbst völlig abstruse altkatholische Begriffe finden in der Übersetzung sofort ihre englische Entsprechung. Wörter wie Erzdiözese oder Bistum, Wörter von denen ich zum Teil nicht einmal im Deutschen weiß wie man sie schreibt oder was sie eigentlich genau bedeuten.
Zum Abschluss dieses wirklich vollgepackten Tages fand dann noch die kurze Einführung in die Ausstellung Donauspuren der Landesgalerie Niederösterreich statt, die von Carola Dertnig zusammengestellte Installation mit performativen Elementen aus eurythmisch gebogenen Kupferstangen, sowie Artefakte aus den Baustellengrabungen für den Bau eben jener Galerie. Abgerundet wurde das ganze von einer anschließenden Lesung von Theresa Präauer und Marente de Moor. Bei de Moors Roman „Aus dem Licht“ wird die Erfindung des Films durch einen während der Zugfahrt nach Paris verschollenen Patent-Entrepreneur durchgespielt, bei Theresa Präauer geht es dagegen noch um die manuelle Bildfertigung, als sie aus ihrem Roman „Johnny und Jean, der in der Kunststudentenszene der zweitgrößten Stadt spielt.
Samstag, 23.11.2019
Die innere und die äußere Welt
Der dritte Tag ist angebrochen und das Wetter immer noch so schön wie gestern. Heute soll es laut Programm außerirdisch oder zumindest transirdisch werden mit dem Thema „Wie irdisch ist das
Leben?“. Und vor allem wenn man die großartigen „Astronautengedichte“ von Clemens Setz kennt, weiß man, dass da einiges auf einen zukommt. Zusammen mit dem Kanadier Wahlberliner Rory MacLean, der seinerseits für Michel Faber einspringt, diskutiert er über die Weiten der externen wie internen Welt. In seinem neuesten Buch „Der Trost runder Dinge“ erforscht Clemens Setz laut eigener Aussage die alltäglichen Privatleben von Menschen, wobei der Fokus auf dem „privat“ liegt. Er will die von der Literatur bislang eher ausgesparten Momente des Lebens erfassen: Toilettengänge, Essen, irrationale Handlungen und Gedanken, willkürlich aufspringende Gewaltphantasien die man sich selbst nicht erklären und schon gar keinem mitteilen kann. So weit wie möglich in das innere der menschlichen Erfahrung vordringen. Im Gegensatz zum selbsternannten Google-Earth-Autor Setz ist Rory MacLean eher physisch auf Reisen und legt mit seinen semiautobiographischen Reisewerken Bücher vor, die die angelsächsische Aufteilung in „Fiction“ und „Nonfiction“ sprengt, was nicht von allen immer nur gut geheißen wird. Die Sprache kommt, wie schon gestern auf den Begriff der Empathie, den Clemens Setz nicht nur positiv besetzt sieht: „Wenn ich in ein Schlachthaus gehe und alle umbringe, weil ich Empathie mit den Tieren hab, dann ist das ja nicht zwingend gut.“. Damit spricht er einen Punkt an, der bei vielen Diskussionen des Festivals eine Rolle spielt. Immer wieder wird versucht auszuloten, was die Aufgabe der Literatur sei. Empathie herstellen? Komplexe Strukturen leicht verdaulich darzustellen? Die Gesellschaft bilden? Und immer wieder denke ich mir, dass das die falsche Frage ist. Dass Literatur keine Aufgabe hat, weil sie keine Aufgabe haben muss und das ist es ja gerade, was sie zu einer Kunst macht. Aber das würde jetzt zu weit führen.
Die Sprache kommt auf die autonome, von keinem Staat anerkannte Republik Transnistrien in Moldawien, springt hoch zum Thema der nicht anerkannten Staaten und landet schließlich beim Komplex der Mikrostaaten, der die beiden Diskussionspartner selbst mindestens so sehr fasziniert wie mich und die Moderatorin Rosie Goldsmith. Rory MacLean gründete selbst einen eigenen Staat als seiner Familie durch einen bürokratischen Fehler eine absurd kleine Insel in den Besitz fiel. Auf seine Unabhängigkeitserklärung der Republik „Bumpalump“ erhielt er zwar keine Antwort der kanadischen Regierung, allerdings war die Rücksendung des Briefs an „Bumpalump“ offiziell abgestempelt, was dem Staat zumindest eine gewisse Legitimation einbrachte. Das Thema der Mikrostaaten als Symptom des Abkapselungswunsches schlägt sich auch in der anschließenden Diskussion zwischen Marc Elsberg und Zoë Beck nieder. Zoë Beck, die aus dem London einer Post-Brexit-Welt schreibt, deutet an, was eine automatisierte, isolierte Welt bedeuten könnte, wobei London nur als Vorreiterbeispiel eines größeren gesellschaftlichen Phänomens steht. Aber so sei London: Ein Brutkasten für gesellschaftliche Trends und Entwicklungen. Kinderarmut, Mietenexplosionen, Gentrifikation, Avocadotoasts, alles entsteht zuerst in London. Marc Elsberg führt indes anhand eines tatsächlich existierenden Mathematischen Beweises die Relevanz der Kooperation in lebendigen Systemen an und weißt auf den irritierenden Zustand hin, dass all unsere Staats- und Wirtschaftssysteme auf der falschen Annahme beruhen, dass ein Kuchen seine Größe behält, wenn man ihn verteilt, wohingegen er in Wirklichkeit immer mehr wächst, je mehr Hände er durchläuft.
Am Abend gibt es noch eine Literarisch-Musikalische Matinee, bei der die sechsköpfige Band Darkstone Brass mit viel Jazz und Funk aufspielt. Dazu gleich drei Lesungen und Gespräche mit den Autorinnen Helena Janeczek, Julia von Lucadou und Enis Maci. Es geht ums Erinnern, Gedenken und Aufarbeiten bei „Das Mädchen mit der Leica“ – die deutsche Übersetzung des zuerst auf Italienisch erschienenen Romans Helena Janeczeks, um Wolkenkratzer, Megacities, Influencer, Leistungsdruck und Selbstoptimierungswahn in Julia von Lucadous Roman „Die Hochhausspringerin“, mit dem sie laut eigener Aussage den kapitalistischen Gedanken konsequent zu Ende denkt. Zuletzt erzählt Enis Maci mit
ihrem Essay „Insel“ aus dem Band „Eiscafé Europa“ von Sammel- und Löschvorgängen, von Zeitungsartikeln über Albanien, die ihr Vater in jahrelanger Kleinstarbeit aus dem Deutschen ins Albanische übersetzte, um sie online zu stellen, ohne sie dabei jemals zwischenzuspeichern, nur damit sie mit einem mal alle auf einmal verschwanden. Im abschließenden Gespräch geht es um Identitäten und Identitäre, was die Brass-Band elegant mit einem Cover von In the neighbourhood abrundet. Anschließend gibt es eine Weinverkostung und man hat die Wahl zwischen einem Anspruchsvollen, einem Mineraligen und einem Unkomplizierten.
Sonntag 24.11.2019
Ein Hoch den ÜbersetzerInnen
Der letzte Tag des Festivals ist angebrochen und ich spüre die Fülle der Vorträge schon im Hirn und die Fülle des Essens im Bauch. Heute steht allerdings ohnehin kein vollständiges Programm mehr an, sondern die abschließende Vergabe des Ehrenpreises des Österreichischen Buchhandels für Toleranz an die Italienische Autorin Francesca Melandri, die ihn vor allem für ihr neues Buch „Alle, außer mir“ (Italienisch: „Sangue Giusto“) erhält. Die Veranstaltung, zu der gefühlt alle niederösterreichischen Priester und Politiker erschienen sind, wird musikalisch von Simon Zöchbauer und dem Koehne Quartett begleitet, die sehr rhythmisch mit Streichern und einer Trompete eine cineastisch anmutende Spannungsatmosphäre aufbauen, dabei sehr reduziert und effektiv elektronische Elemente einsetzen und insgesamt perfekt als Filmmusik in jeden südkoreanischen Arthouse-Film passen würden.
Francesca Melandri wird von verschiedenen Seiten für ihr Werk gelobt, in dem sie politische Themen in Familienstrukturen übersetzt und globale Entwicklungen als Kammerspiel ausdifferenziert. „Die Familie wird selbst zu Grenzland, Konfliktgebiet, Kampfzone“, wie es die bereits gestern lesende Helena Janeczek in ihrer Laudatio auf den Punkt bringt. Auch Francesca Melandri selbst geht in ihrer Dankesrede stark auf das Thema Übersetzung ein. Übersetzung von Politik in Familie, von Gedanke zu Tinte, von Sprache zu Sprache. Sie dankt und lobt den viel zu oft vergessenen literarischen wie diplomatischen ÜbersetzerInnen und DolmetscherInnen. Ich stelle mir vor, wie die beiden Dolmetscherinnen, die seit mehreren Tagen unsichtbar und versteckt irgendwo außerhalb des Veranstaltungsraumes sitzen und die Gespräche für das Nicht-Deutschsprachige Publikum per Headsets übersetzen, nun heimlich und unbemerkt das Lob und den Dank entgegennehmen und sogar den Applaus des Publikums nur durchs Mikrophon mitbekommen. Ich kann mich Francesca Melandri hier nur anschließen, was das Festival wie auch sonst jeden Aspekt des kulturellen und politischen Miteinanders betrifft: Ein Hoch den ÜbersetzerInnen überall und allen, die den kulturellen Austausch und die Disziplinen wie Ländergrenzen überschreitende Kunst fördern und am Leben halten. Lasst uns alle Künste und Kulturen annehmen, damit wir nicht alle irgendwann Kunst und Kultur verlieren. Vielleicht steckt hier ein Schlüssel zum glücklichen Leben im Sinne der Literatur: Kooperation, Kultur, Kunst und dazu fähig zu sein, starre Begriffe schwammig zu denken, alles in alles andere übertragen zu können.